Realität versus Fantasie: Wenn sich unsere alltägliche Wahrnehmung der Welt, die ja sowieso schon einzigartig ist, mit unserer Fantasie vermischt, dann kann das zu richtig kreativen Einfällen und spannenden Stories…
Realität versus Fantasie: Wenn sich unsere alltägliche Wahrnehmung der Welt, die ja sowieso schon einzigartig ist, mit unserer Fantasie vermischt, dann kann das zu richtig kreativen Einfällen und spannenden Stories führen. Manchmal ist dann gar nicht mehr so klar, was real ist und was nicht. Aber solche Geschichten zeigen uns, wie stark unsere Wahrnehmung unsere alltägliche Welt und damit auch das, was wir für wahr halten, prägen kann.
Heute habe ich drei Bücher für euch, die alltägliche Charaktere in ihrem normalen, auf den ersten Blick banalen, Leben zeigen. Doch wo die eine dem verrückten Alltag eher scheinbar passiv und gleichgültig begegnet, macht die andere Hauptperson ein kleines Wunderland aus ihrem grauen Alltag. Und im dritten Buch erleben die beiden Protagonistinnen einen abgefahrenen Roadtrip, der sie an ihre Grenzen bringt, aber auch über sich hinauswachsen lässt.
Katze hasst Welt
Zugegeben, der Titel „Katze hasst Welt“ klingt erst einmal etwas extrem. In vielen der in kurzen Comicstrips mit groben Linien gezeichneten Situationen kann man Katze, die Protagonistin des schmalen Comicheftes von Kathrin Klingner, aber gut verstehen.
Katze ist frisch getrennt und arbeitet schon seit ein paar Jahren in einem Café auf dem Kiez in Hamburg. Sie macht Kaffee, hört sich absurde und sinnlose Gespräche an und steht so den Tag durch, schweigend.
Im ersten Teil erfahren wir, wie es zur Trennung von Katze und Panda kam und wie sie beide mit dieser umgehen. Katze lässt sich erst mal hängen und ist sprachlos – wie so oft – und nebenbei wird das Ganze auch noch von ihren tierischen Freunden kommentiert. Auf der Arbeit trifft sie täglich auf verschiedene Gäste: Prostituierte, Betrunkene, fordernde Touris… und auch auf viele Meinungen und Respektlosigkeiten. Diese muss sie sich täglich anhören – erwidert aber nie etwas darauf. Von Katze selbst erfahren wir wenig, lediglich die Zeichnungen verraten, wie es ihr wirklich geht. Manchmal geht sie in dem trubeligen Stadtteil voller Casinos, Sexshops und Co. in den Scream-o-mat. Und manchmal sieht sie ganz schön müde aus.
Zum Glück erfahren wir im letzten Teil noch ein wenig über ihre Vergangenheit. Katze war nämlich früher an der Kunsthochschule und auch hier traf sie auf ziemlich abgefahrene und gruselige Menschen. Sinnlose Partys, zu sehr von sich überzeugte und kaputte Menschen lassen sie an allem zweifeln und werden bis ins absurdeste beschrieben.
Das Ganze prägt die eigentlich sehr sensible Katze sehr: Sie bricht die Hochschule ab und zieht weg, außerdem besucht sie einen Therapeuten. Ihre Sprachlosigkeit und Schweigen scheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, sie erträgt lieber still, bleibt in ihrem Job, sucht kein Gespräch mit dem Partner. Doch sie hat auch ein sehr kritisches, gut beobachtendes Auge und ist sehr feinfühlig. Letzten Endes nimmt sie ihr eigenes Leben dann aber doch selbst in die Hand.
Katze hat eine recht negative Sicht auf die Dinge, sie hält sich immer zurück, zeigt wenig Eigeninitiative und man fragt sich, warum sie diese tragisch-komische Parallelwelt einfach so aushält, obwohl sie davon reizüberflutet ist und irgendwie kein Teil davon ist. Es ist hier meiner Meinung nach schwer, ein Fazit zu ziehen, was wir aus ihrer Story lernen können. Vielleicht einfach nur, dass es hilft, sich ein wenig Ironie beizubehalten und nicht überall eingreifen muss und dass es fraglich ist, wie heilsam es ist, alles mit sich selbst auszumachen.
Rosalie Blum
Kommen wir zu einem wahren Feuerwerk an verrückten Situationen, die sich allein aus dem Aufeinandertreffen verschiedener Menschen ergeben. Dieses umfangreiche Comicwerk lässt sich schwierig zusammenfassen, aber im Grunde geht es um einen Beobachter, der selbst irgendwann beobachtet wird und der endlich aus seinem Alltagstrott entflieht. Hier wird schön gezeigt, dass der Schein und die Fantasie oft nicht der Realität entsprechen, das heißt aber nicht, dass die Realität nicht auch schön sein kann. Super spannend ist hier auch beschrieben, wie wir Unwissen mit eigenen Theorien und Wunschdenken zu einem Gesamtbild zusammenfügen.
„Rosalie Blum“ von Camille Jourdy lebt von sehr skurrilen Figuren. In der Mitte steht Vincent, ein zurückhaltender dreißigjähriger Mann, der einen Friseurladen besitzt. Durch seine Neugier und durch den Nervenkitzel des Neuen beginnt er, viele Menschen um sich herum Stück für Stück unbewusst zu beeinflussen. Aber der Reihe nach. Eines Tages trifft er beim Einkaufen eine Dame, die er meint irgendwoher zu kennen. Diese lässt ihn nicht mehr los und wird von da an ein fester Bestandteil seines Lebens, vor allem da sie genau so einsam wie er zu sein scheint:
Sein trister Alltag besteht aus niedermachenden Kommentaren seiner Mutter, um die er sich sehr oft kümmert und den Kontakt mit seinem Cousin, der in seiner eigenen, skurrilen Fantasiewelt lebt.
Immer wieder folgt er nun der Fremden, nur um zu beobachten, was sie so tut. Er fühlt dabei starke Gewissensbisse und Scham und merkt, dass die Frau namens Rosalie mehr mit seinem Leben zu tun hat, als er greifen kann. Nebenbei verändert sich das Verhältnis zu seiner geltungssüchtigen Mutter zum Schlechten, da er immer weniger ihre vereinnahmende und fordernde Art tolerieren möchte.
Im zweiten Teil taucht noch eine weitere Person auf, Aude, die für die folgende Geschichte wichtig wird und als Bindeglied fungiert. Diese hat ihre ganz eigenen Probleme und wohnt mit einem Möchtegern-Zirkusartist zusammen, der immer wieder verrückte Menschen in die WG bringt, in der sie wohnt. Und sie kennt Rosalie. Um die Geschichte nicht zu verraten, sei hier nicht mehr dazu ausgeführt.
„Rosalie Blum“ zieht einen in den Bann, vor allem da es zwischen den Zeilen ganz eindeutig bedeutsame Themen wie den Ödipus-Komplex, Kindheit und Trauma aber auch Sinnsuche, Selbsterkenntnis durch andere oder auch das Spiel mit dem „Verbotenen“ enthält. Vincent ergreift die Möglichkeit, aus seinem langweiligen Alltag auszubrechen und auch alte Muster und Gewohnheiten zu verändern. Und dadurch wird alles in seinem Leben plötzlich aufregend und besonders.
Die Graphic Novel ist farbig und detailreich illustriert, der zeichnerische Stil sehr ansprechend und gerade Gestik und Mimik kommen sehr gut rüber. Der ergänzende Text und die Sprechblasen sind in Schreibschrift gehalten. Neben dem ganz alltäglichen Anschein lernen wir hier total abgefahrene Charaktere in ihren vier Wänden so kennen, wie sie wirklich sind. Insgesamt ein sehr gelungenes Entdeck- und Versteckspiel, das sehr spannend zu lesen ist und berührt. Es gibt auch eine Verfilmung des Buches, diese ist hier in Deutschland aber momentan nicht ganz so gut verfügbar.
West, West Texas
In diesem Artikel habe ich euch bereits ein Buch von Tillie Walden vorgestellt. Heute habe ich endlich die Gelegenheit, ein weiteres ihrer Werke vorzustellen. In „West, West Texas“ webt sich eine surreale, fantastische aber doch auch leicht bedrohliche Geschichte rund um Freundschaft, Kampf mit den inneren Dämonen und einen Roadtrip zu einem intensiven Abenteuer.
Etwa zur selben Zeit machen sich Lou und Bea unabhängig voneinander auf den Weg: Die eine, um jemanden zu besuchen, die andere um einfach wegzukommen. Was eher als eine Fahrt zum Zweck beginnt, wird zu einem sich langsam entfaltenden Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Protagonistinnen.
Stück für Stück, Wegstrecke für Wegstrecke offenbaren sie sich einander mehr oder weniger freiwillig. Und dann finden sie eine Katze und plötzlich sind seltsame, finstere Gestalten hinter ihnen her. Wo erst mal nur das Wetter verrückt spielt und sich das kleine Auto samt Miniwohnwagen mühsam hindurchschleppt, verwandelt sich bald die ganze Außenwelt in ein fast schon surreales Labyrinth. Die Bedrohung kommt näher – und mit ihr auch die Chance für sich einzustehen und gegen die inneren Dämonen zu kämpfen.
„West, West Texas“ thematisiert unter anderem die schwierige Kindheit der beiden Frauen und wie sie diese immer noch beeinflusst. Einerseits wühlt es auf, da es um traurige Themen geht, aber gleichzeitig zeigt die Graphic Novel auch starke, resiliente Frauen, deren inneres Erleben durch die äußeren Geschehnisse verdeutlicht wird. Beim Lesen fühlt es sich so an, als wären Bea und Lou alleine auf der Welt, doch hier und da gibt es auch Lichtblicke.
Die surreale Landschaft verdeutlicht die Wahrnehmung der beiden Frauen, hier vermischen sich Realität und Fantasie zu einem spannenden und herausfordernden Abenteuer. Was als Roadtrip begann, wird zu einem für beide wichtigen Schlüsselmoment, der ihre Welt zunächst erschüttert. Die Geschichte hat mich in ihren Bann gezogen und umgehauen. Wie auch in ihren anderen Büchern arbeitet Walden mit einer für sie typischen Farbpalette, dieses Mal mit satten Lila-, Blau- und Weinrot-Tönen und einer insgesamt eher schwarz-dunklen Szenerie.
Was alle drei Bücher zusätzlich vereint ist die Tatsache, dass alle Hauptpersonen der völlig unterschiedlichen Geschichten an einem Wendepunkt in ihrem Leben angekommen sind und wir das Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und eigener Gedanken, zwischen Innenwelt und Außenwelt der Charaktere hautnah mitbekommen. „West, West Texas“ und „Rosalie Blum“ stehen nun auf meiner Liste der Comicfavoriten, „Katze hasst Welt“ ist aber ebenfalls lesenswert.
Bleibt nur noch gute Lektüre zu wünschen – und viel Freude beim Entdecken von verschiedenen Realitäten!
Vielen Dank an den REPRODUKT Verlag für die Rezensionsexemplare!