Anaïs Nin ist für viele eine Ikone. Vor allem für ihre Tagebücher bekannt, hat sie sich als weibliche Schriftstellerin mit ihrer inneren Welt auseinandergesetzt und über (vermeintliche) Tabuthemen geschrieben – unter anderem über die weibliche Leidenschaft, die sie auch ausgelebt hat. Wer tiefer in ihre Geschichte eintaucht, erfährt aber auch von traumatisierenden Erlebnissen, die sie stark geprägt haben.

In der neuen Biographie in Form einer Graphic Novel, „Anaïs Nin – Im Meer der Lügen“ von Léonie Bischoff,  können wir ihr turbulentes und wildes Leben mitverfolgen. Die Graphic Novel beginnt, als Anaïs Nin bereits in Paris lebt, zuvor war sie in Barcelona und New York. In der französischen Hauptstadt ist sie in den wohlhabenderen Kreisen unterwegs und lebt mit dem Bankier Hugo zusammen. Immer wieder zeigt sich in ihr der Zwiespalt zwischen „perfekter Ehefrau“ nach dem Frauenideal der 30er Jahre und dem Wunsch nach einem künstlerisch-freien Leben.

Die junge Anaïs beschäftigt sich mit Beziehungen, was Intimität für sie bedeutet und zieht auch die Aufmerksamkeit vieler Männer auf sich. Zur damaligen Zeit war zudem die Psychoanalyse auf dem Vormarsch, für diese beginnt sie sich ebenfalls zu interessieren. Anfangs pflegt sie vor allem durch Kontakte ihrer Brüder den Austausch mit Männern, so lernt sie auch Henry Miller, ihre spätere Affäre, kennen. Anaïs wird immer wieder mit Unglauben konfrontiert, wenn Männer ihre Texten lesen. Insgeheim wird sie zwar oft bewundert, doch gleichzeitig als Schriftstellerin nicht ernst genommen. Anaïs liest viel, erlebt ihre Umgebung mit allen Sinnen und sucht aktiv den Austausch über ihre Texte.

Im Laufe der Geschichte lernen wir sehr viel über die Gedankenwelt, Weltansicht, inneren Muster und Glaubenssätze von Anaïs. Immer wieder trifft sie sich mit Männern, die sie aus unterschiedlichsten Gründen interessieren. Diese vergehen sich dann aber an ihr; sie lässt den Missbrauch über sich ergehen, da sie befürchtet, dass sie die Leidenschaft in den Männern ausgelöst habe und sie ihnen deshalb Befriedigung schuldig ist.

Anaïs beginnt, ihre Tagebucheinträge vor ihrem Mann zu verheimlichen und gleichzeitig ihre „Tugendhaftigkeit“ aufrecht zu erhalten. Bis sie sich eines Tages in June, der Frau Henry Millers verliebt, und der emotionalen und extravaganten Frau gnadenlos verfällt. Der Konflikt zwischen dem Wunsch nach Leidenschaft mit June und dem der völligen Hingabe gegenüber ihres Mannes Hugo droht sie mehr und mehr zu zerreißen.

Mit Henry lebt sie schließlich ihre Leidenschaft ohne Zurückhaltung aus und fühlt sich endlich glücklich und erfüllt. Diese Verbindung scheint ihr Selbst zu stärken und dadurch auch ihre Ehe zu beleben. Mehr und mehr wird ihr Schreiben ihr Anker, ihre zweite Realität und ihr Weg, Dinge zu verarbeiten. Doch bröckelt die zusammengesetzte Welt von Anaïs. Sie sieht hinter die Fassade der ihr vergötterten Menschen und verstrickt sich immer mehr in ihrem Meer aus Lügen und Verheimlichungen.

Eines Tages tritt ihr Vater wieder in ihr Leben, der sie und ihre Familie bereits in Kindertagen verlassen hatte. Und damit gerät ihre Welt völlig aus den Fugen. Als Lesende erfahren wir durch Anaïs‘ Besuche beim Psychoanalytiker von der grotesken Beziehung zu ihrem Vater, die ihr Verhalten stark beeinflusst.
Immer mehr spielt Anaïs Rollen für die Männer in ihrem Leben und spürt die Macht, die sie über diese hat. Viele dieser Männer fühlen sich zudem von ihrem Tagebuch eingeschüchtert, welches neben ihnen existiert. Sie wiederum nutzt fast schon schizophren jeden Mann für neue Erfahrungen aus. Doch kann dieses verstrickte Leben noch länger gut gehen?

In „Anaïs Nin – Im Meer der Lügen“ tauchen wir tief in die Welt von Anaïs ab: Ihre Komplexität, ihre Sehnsüchte, aber auch ihre heftige Zerrissenheit zwischen Ansprüchen von außen und ihren eigenen Gedanken und Emotionen. Wir lesen von verstörenden Ereignissen genauso wie von beflügelnder kreativer Energie.

All das wird von Léonie Bischoffs kräftigen bunten Zeichnungen sehr schön verdeutlicht. Die Illustrationen und Texte sind großartig kombiniert und reißen einen förmlich mit in die Tiefe. Die Emotionalität, inneren Gedankenstrudel oder auch die starken Einschnitte in der Geschichte bleiben damit noch lange im Gedächtnis – diese Biographie hallt im eigenen Inneren für längere Zeit nach.

Vielen Dank an den Splitter Verlag für das Rezensionsexemplar!