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Kategorie: Reading.

Betty Boob – No Body is Perfect

Comics sind für viele LeserInnen eine willkommene Abwechslung zu textlastigen Büchern. Viele Comics oder Graphic Novels sind schon über die Bildsprache aussagekräftig. Aber so ganz ohne Text, geht das denn,…

Comics sind für viele LeserInnen eine willkommene Abwechslung zu textlastigen Büchern. Viele Comics oder Graphic Novels sind schon über die Bildsprache aussagekräftig. Aber so ganz ohne Text, geht das denn, vor allem bei schwierigeren Themen? Dass Bilder ausreichend sein können und wie so oft weniger mehr ist, beweist das mitreißende Werk von Véro Cazot und Julie Rocheleau, „Betty Boob“, dem der französische Buchhandelspreis für Comics „Prix de la BD Fnac“ verliehen wurde.

Der über 170 Seiten starke Band erschien 2018 im Splitter Verlag und behandelt ein äußerst schwieriges Thema: der Verlust von Brüsten durch Brustkrebs. Elisabeth verliert durch Chemotherapie nicht nur ihre Haare sondern auch eine Brust. Ihr Partner kann nicht damit umgehen und verlässt sie. Viel schlimmer kann es in diesem Moment kaum kommen. Sie fühlt sich nicht attraktiv und kämpft um ein neues Selbstbewusstsein und eine neue Identität.

In grotesken, aber visuell starken Bildern erzählt der Comic die Hindernisse, mit denen die Protagonistin zu kämpfen hat. Sie selbst geht zunächst immer selbstsicherer mit sich und ihrem Körper um, dennoch verliert sie ihren Job und erfährt viel Ablehnung und auch angewiderte Reaktionen.

Der Comic führt – mal mehr, mal weniger abstrus – und in Animationsfilm-Art vor Augen, wie sehr unsere Aufmerksamkeit auf Äußerlichkeiten liegt. Das Ganze erscheint stellenweise sehr absurd und irreal, aber dennoch emotional mitreißend. Die Farbgebung spricht stark für sich, manche Panels sind beispielsweise grün (wie Ekel) oder auch zartviolett, wenn es um Sinnlichkeit geht.

Elisabeth trifft schließlich durch Zufall auf schwimmendes Burlesque-Theater und lernt eine besondere Gemeinschaft kennen, in der niemand perfekt ist und jede/r mit seinen (körperlichen) Schwächen kokettiert und diese elegant und sexy zur Schau stellt. Das Publikum ist jedes mal aufs Neue fasziniert von der rauschenden Darstellung der SchaustellerInnen, die Burlesque und Cabarét vereinen. Körperlichkeit wird hier nicht nur akzeptiert, sondern gelebt.

Sie verliebt sich sofort in die Vorstellungen und wagt sich schließlich auch auf die Bühne – Betty Boob ist geboren! Elisabeth erhält einen Vertrag und wird in die bunte und verrückte Truppe aufgenommen. So gewinnt sie langsam neue Stärke und beginnt ein völlig neues Leben.

Betty Boob“ ist ein starkes Plädoyer für Selbstliebe und ein Werk das beinahe ohne Worte zeigt, wie wichtig es ist, eine akzeptierende und wohlwollende Community um sich zu haben.

Vielen Dank an den Splitter-Verlag für das Rezensionsexemplar!

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Herz aus Stein – eine Fabel über das Fühlen

Ein Mädchen mit einem Artischockenherz und ein Junge, der nichts fühlt? Diese seltsame Konstellation ergibt eine traurige, aber atmosphärische Fabel mit einem kleinen Funken Hoffnung. Wir lernen in „Herz aus…

Ein Mädchen mit einem Artischockenherz und ein Junge, der nichts fühlt? Diese seltsame Konstellation ergibt eine traurige, aber atmosphärische Fabel mit einem kleinen Funken Hoffnung.

Wir lernen in „Herz aus Stein“ einen kleinen Jungen kennen, der in einer düsteren Umgebung aufwächst. Er hat zudem ein Handicap: Er hat kaum einen Herzschlag! Die Eltern sind sehr betrübt und er wächst einsam und traurig auf. Zur selben Zeit lebt nicht unweit von ihm ein liebreizendes, warmherziges Mädchen, das stets Glück ausstrahlt und in dessen Nähe jeder in ihrem Umfeld gerne verweilt.

Es kommt wie es kommen muss, eines Tages stoßen die beiden aufeinander. Das Mädchen ist sofort Feuer und Flamme für den Unbekannten und will ihm ihre Liebe schenken. Sie übergibt ihm einen Teil ihres Herzens, ein Artischockenblatt. Doch er versteht nicht, was dies bedeutet und verschmäht das Geschenk.

Ein anderer Junge sieht währenddessen die innere und äußere Schönheit und Anmut des Mädchens. Er hat ein Herz aus Gold und möchte gerne auf sie acht geben. Sie hat aber nur Augen für den grummeligen, deprimierten Jungen, der nicht versteht, warum sie seine Nähe sucht und der nicht schätzt, dass sie ihm wieder und wieder Blätter ihres Artischocken-Herzens schenkt.

Irgendwann begreift das Mädchen, dass ihre Mühe vergebens ist und ihre Zuneigung nicht erwidert wird. Sie wird traurig als sie sieht, dass sie nur noch zwei kleine Blättchen ihres Herzens in sich trägt. Die Geschichte nimmt eine Wendung, die noch nicht verraten sei, nur so viel: Sie erhält ihr Herz zusammengefügt wieder zurück und erlebt eine Überraschung.

Was an dieser kurzen Fabel besonders hervor sticht, sind die unterschiedlich intensiven Farben, die den Jungen und das Mädchen bildlich trennen. Das Mädchen in ihrem Umfeld ist bunt, weich und sanft gemalt, die restliche Umgebung und der Junge in grau und schwarz, trostlos und verloren. Beide Welten haben jedoch ihren Reiz und ihre eigene Ästhetik. Eine weitere Besonderheit ist die poetische Sprache, die Panels sprechen großflächig und intensiv für sich. Es gibt keine umrahmenden Elemente der gesagten Worte, sie begleiten den Betrachtungsprozess wie nebenbei, der Text fällt aber durch Reimschema und gehobenere Sprache auf.

Die Illustrationen sind – im wahrsten Sinne des Wortes – das Herzstück des Hardcover-Comics. Der Stil ist verspielt, fantastisch und organisch. Viele Elemente sind nur angedeutet, sodass die Atmosphäre an eine Traumwelt erinnert, was den symbolischen Charakter der Fabel noch unterstreicht. Lasst euch von diesem bildgewaltigen Comic mitreißen und berühren!

Vielen Dank an den Splitter-Verlag für das Rezensionsexemplar!

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Willkommen im Wunderland! Die entsetzliche Angst der Epiphanie Schreck

Angst ist ein Thema, das nicht nur in Zeiten von Pandemien aktuell ist. Zusammen mit Schlagwörtern wie mentale Gesundheit und Achtsamkeit hält es immer mehr Einzug in die Medien und…

Angst ist ein Thema, das nicht nur in Zeiten von Pandemien aktuell ist. Zusammen mit Schlagwörtern wie mentale Gesundheit und Achtsamkeit hält es immer mehr Einzug in die Medien und wird nicht mehr nur als privates Thema mit Nahe stehenden besprochen. Mich interessiert vor allem der künstlerische Umgang mit Angst – in Comics, Büchern und Illustration. Séverine Gauthier (Geschichte) und Clément Lefèvre (Zeichnungen und Farben) haben gemeinsam ein elementares Werk über die Angst erschaffen. Ich war beim Lesen durchgängig begeistert, aber fangen wir von vorne an.

Der Comicband „Die entsetzliche Angst der Epiphanie Schreck“ handelt von einem jungen Mädchen, das schon seit es denken kann ihre Angst im Gepäck mit sich herumschleppt. Ihre Angst ist ein überdimensionaler Schatten, der sie immer wieder verschlingt, bedrückt und verfolgt. Eines Tages drängt sie die Angst in den Wald, in diesem begegnet sie einem seltsamen Männchen, das gerne Fragen beantwortet. Doch auch dieser kann ihr nicht richtig weiterhelfen und ist ebenfalls auf der Suche, aber nach etwas anderem, etwas das er verloren hat.

Sie trifft auf ihrem Weg durch den Wald auf so allerlei merkwürdige Gestalten, von denen sie sich immer ein wenig Erkenntnis mitnehmen kann. Alle versuchen, ihr auf ihre eigene Weise zu helfen, doch letztlich muss sie selbst lernen, mit dem Schatten umzugehen. Und so beginnt sie sich, holprig und mit viel Mühe, mit ihrer Angst auseinanderzusetzen.

Es ist immer eine große Herausforderung, solche komplexen und schwierigen Themen für Kinder, aber auch Erwachsene, umzusetzen. Epiphanie wird als eine für ihr Alter schon sehr reife Person dargestellt, die aber auch sehr unter ihrer Angst leidet. Den beiden AutorInnen ist es gelungen, eine authentische Fabel über eine allgegenwärtige Emotion zu erschaffen.

Wer selbst mit dem Thema Angststörung oder Panikattacken zu kämpfen hat, kann hier einiges für sich mitnehmen, fühlt sich verstanden und kann vieles sehr gut nachempfinden. Für Menschen, die mit der pathologischen Form der Angst noch wenig Anknüpfungspunkte hatten, ist der Band ein guter Einstieg in dieses Thema.

Die Atmosphäre im Comic erinnert etwas an Alice im Wunderland, wir tauchen in eine nicht näher beleuchtete, fantastische Welt ein, die Szenen wechseln ohne große Erklärung, die Charaktere sind teilweise grotesk und merkwürdig. Wir erfahren wenig Hintergründe zu Epiphanie selbst, aber lernen viel über ihre Gedanken und ihr Innenleben.

So manche Kreatur und die träumerischen Elemente in den Panels, wie zum Beispiel ein Zirkus der Kuriositäten, erinnern etwas an Filme von Studio Ghibli. Ein besonderes Highlight waren für mich die Extraseiten am Ende, ein Handbuch für Phobiker mit witzigen abstrusen Phobien und einem kleinen Brettspiel. Neben der Geschichte machen die Farbgestaltung, der Illustrationsstil und die Ausgewogenheit zwischen Text und Bild den Comic zu einem besonderen und außergewöhnlichen Erlebnis. Folgt Epiphanie in ihre Welt und erlebt, wie sie auf ihrer Suche nach Antworten an Stärke und Lebensmut gewinnt!

Vielen Dank an den Splitter Verlag für das Rezensionsexemplar!

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Von unten – Comic über Arbeit und Punk in Schweden

„Von unten“ ist ein autobiographischer Comic (200 Seiten, erschienen 2019 im avant-verlag) aus der Hochburg der feministischen Comicszene in Schweden. Daria Bogdanska berichtet darin von Krisen in den Zwanzigern junger…

Von unten“ ist ein autobiographischer Comic (200 Seiten, erschienen 2019 im avant-verlag) aus der Hochburg der feministischen Comicszene in Schweden. Daria Bogdanska berichtet darin von Krisen in den Zwanzigern junger Leute, aber vor allem von prekären Arbeitsverhältnissen in Schweden, insbesondere für MigrantInnen. Vieles davon hat sie selbst erlebt, kann also sehr authentisch von ihrem sehr holprigen und frustrierenden Anfang in Malmö berichten.

Zu Beginn reist sie von Warschau nach Schweden, um die Kunsthochschule besuchen zu können. Doch so einfach ist das alles nicht… Um sich finanziell über Wasser zu halten, geht die junge Frau auf Jobsuche. Leichter gesagt als getan.

Sie erlebt die Bandbreite an Schwierigkeiten der Arbeitssuchen und der Ausbeutung von Arbeitskräften: Einmal stehen große bürokratische Hürden im Weg, um überhaupt eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, ein andermal wird ihr der Lohn nicht ausgezahlt. Schließlich gerät sie durch Bekannte an einen vertrauenserweckenden Ladenbesitzer eines indischen Restaurants, wo sie zu jobben beginnt.

Es sind nicht nur sprachliche Barrieren, die Daria dort bewältigen muss. Sehr schnell erfährt sie auch, dass keinerlei Transparenz oder Klarheit bezüglich der Löhne, aber auch den Arbeitsbedingungen herrscht. Ihr wird klar, dass sie in ein Raster aus strukturellem Rassismus hineingeraten ist. Sie erlebt ein unausgesprochenes Klassensystem, in dem sich der Lohn nach der Herkunft der Mitarbeitenden richtet und in dem es keine Arbeitsverträge gibt.

Doch da sind auch gute Momente, sie lernt schnell Menschen auf ihrer Wellenlänge kennen und wird immer wieder von Freunden unterstützt. Sie bekommt Zugang zur Musik- und Punkszene. Sie realisiert, dass die Schere zwischen arm und reich besonders gravierend ist: „Manche müssen arbeiten, damit andere feiern können“. Auch wenn sie in einer Art „Multikulti-Subkultur-Linke-Hipster-Blase“ lebt, empfindet sie sich feststeckend in einem System einer modernen Sklaverei.

Wie viele in ihrem Alter leidet sie unter der ständigen Unsicherheit der Zustände, ihr Wunsch nach mehr Sicherheit und weniger provisorischer Lebensumstände wächst. Sie tritt einer Gewerkschaft bei, um sich über ihre Arbeitsrechte zu informieren. Schwarzarbeit ist in Malmö keine Seltenheit. Sie wird aktiv und sammelt Informationen, ohne dass es ihr Chef erfährt, trifft sich mit einer Reporterin und versucht etwas an der prekären Lage zu ändern.

Es macht alles nicht besser, dass sie auch noch emotionale Zerrissenheit spürt, da ihr Freund noch zuhause ist, sie sich aber in einen Musiker in Malmö verliebt. Aber Daria ist fest entschlossen, etwas am real existierenden Hamsterrad der Ausbeutung zu ändern. Wie ihr das gelingt könnt ihr in diesem spannenden und sehr realitätsnahen Comic nachlesen!

Die grafische Gestaltung ist in ihrer Einfachheit sehr ansprechend, einen Einblick in den Grafik-Stil und den Comic bekommt ihr in dieser Leseprobe von „Von unten“.

Vielen Dank an den avant-verlag für das Rezensionsexemplar!

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Debüt zum Nachdenken: „Die unverhoffte Genesung der Schildkröte“

Wahrheit oder Intrige? Diese beiden Stichworte lassen auf eine spannende Geschichte hoffen. Schon das Thema Wahrheit an sich ist in Zeiten von Fake News und Skandalen wie dem Fall Claas…

Wahrheit oder Intrige? Diese beiden Stichworte lassen auf eine spannende Geschichte hoffen. Schon das Thema Wahrheit an sich ist in Zeiten von Fake News und Skandalen wie dem Fall Claas Relotius ein vielschichtiges Konstrukt. Der aus Stuttgart stammende Autor Marc Bensch hat sich in seinem Debüt-Roman „Die unverhoffte Genesung der Schildkröte“ somit ein komplexes Thema vorgenommen. Lasst uns in die Geschichte eintauchen und merkt euch gut, wer wer ist, in diesem oftmals verwirrenden Spiel rund um Identität, Wahrheit und Selbstbestimmung.

Die durchgehend männlichen Protagonisten haben neben ihren Namen auch verkürzte Bezeichnungen: der Schnüffler, der Lächler, der Schmierfink, der Intrigant. Wir machen Bekanntschaft mit einem gesichtsgelähmten Herr von Kornweg, der von den Ärzten aufgegeben wurde, er muss sich nun mit einem Dauerlächeln abfinden. Dann der Intrigant mit falschem Namen, der sich in eine Firma einschleicht, um sich zu rächen; der sein ganz eigenes Spiel mit den MitarbeiterInnen spielt. Außerdem ist da noch der sehr von sich selbst überzeugte Journalist Paul Gram, der sich die prekärsten Stories eigentlich nur ausdenkt und mit der Wahrheit spielt, und nicht ahnt wie nah er an diese herankommt. Zuletzt haben wir noch einen vom Leben enttäuschten Privatdetektiv, der stets eine mehr oder weniger stark schwelende Rebellion gegen seinen Vater, einem reichen Firmenboss, führt.

Und dann ist da noch der Erzähler der Geschichte, der sich schon von Beginn an unvermittelt an uns als Lesende wendet. Der Erzähler gibt vorerst nur hier und da einen Kommentar ab, doch je tiefer wir in die Geschichte eintauchen, desto persönlicher wird dieser und zieht uns immer mehr in die Geschehnisse hinein. Wir denken mehr über die Charaktere nach, welchen Eindruck sie auf uns machen und erfahren immer mehr, wie alle miteinander verknüpft sind.

Der Autor zeichnet die Entwicklungen der Protagonisten durch das punktuelle Einflechten ihrer Vorgeschichte ziemlich genau nach. Wir können somit Beweggründe besser verstehen, können uns auch ein wenig mit ihnen identifizieren, obwohl sie sonst eher negativ dargestellt sind – zumindest in meinen Augen. Jeder der Charaktere verfolgt sein eigenes, meist egoistisches Interesse, jeder bringt eher unsympathische Wesenszüge mit, aber doch erscheinen die Personen menschlich, nachvollziehbarer in ihren Handlungen, indem wir ihre persönliche Wahrheit kennen.

Dann wird es schwieriger, der Handlung zu folgen, es mischen sich gefälschte Namen, Intrigen, gegenseitiges Aushorchen und wechselseitige Interessen wild durcheinander. Das Verwechselspiel nimmt seinen Lauf. Bis sich plötzlich der Erzähler wieder meldet, nachdem ein geheimes Treffen – durch mehrere der vier Personen arrangiert – völlig aus dem Ruder läuft. Er bittet uns um Hilfe, eben weil sich einige der Charaktere nun völlig ungeplant verhalten und er die Kontrolle über sie verloren hat. Lest selbst, wie es für die Protagonisten weitergeht, nachdem sie völlig den Boden unter den Füßen verloren haben und welche Auswirkungen es hat, wenn man sich fragen muss, ob man der aktive Gestalter seines Lebens ist oder nur begrenzt Möglichkeiten hat, dieses zu verändern…

Meiner Meinung nach wurde das Buch erst so richtig spannend, als die vier Protagonisten zunächst verloren schienen. Als die ganzen Intrigen ans Licht kommen und sich die Geschichte zu einer Art Krimi entwickelt. Mir fiel es längere Zeit schwer, die Personen auseinander zu halten, weil sie für mich alle sehr ähnlich wirkten. Stellenweise waren mir die Geschehnisse auch dadurch zu verwirrend – was auch einen Teil der Dynamik des Buches ausmacht. Das Ende ist nicht ganz so einfach zu verstehen, es bleiben definitiv Fragen offen.

Bild: Verena

Letztendlich zeigt dieses Erstlingswerk aber, dass wir unsere Wahrheit in großen Teilen selbst erschaffen. Das kann zum einen erschreckend sein, zum anderen sieht jeder von uns die Welt anders. Dies kann man, anders als die Protagonisten, auch kreativ und zum gemeinsamen Nutzen einsetzen. Es zeigt aber auch, wie unmöglich es ist, eine ultimative Wahrheit zu finden. „Die unverhoffte Genesung der Schildkröte“ ist ein ungewöhnlicher und besonderer Debütroman, der zum Nachdenken anregt und definitiv in Erinnerung bleibt.

Vielen Dank an Marc und den Carpathia Verlag für das Rezensionsexemplar!

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No more Bullshit! Das Handbuch gegen sexistische Stammtischweisheiten.

Es passiert so nebenbei im Alltag, da fallen Sätze wie „Ihr seid nur Frauen im Büro? Na da ist dann wohl Zickenkrieg angesagt.“. Oder Bekannte machen sexistische Witze, auf die…

Es passiert so nebenbei im Alltag, da fallen Sätze wie „Ihr seid nur Frauen im Büro? Na da ist dann wohl Zickenkrieg angesagt.“. Oder Bekannte machen sexistische Witze, auf die man abwehrend reagiert und darauf nur ein „Verstehst du keinen Spaß?“ entgegen geschleudert bekommt. Das kommt euch möglicherweise bekannt vor. Genauso wie Behauptungen, die als Fakten oder Wahrheiten präsentiert werden, wie dass Frauen zu emotional für Führungspositionen wären und deshalb für solche nicht geeignet sind.

In all diesen Situationen ist cleveres Argumentieren und eine schlagfertige Reaktion nötig. Hierfür greift euch „No more Bullshit!“ unter die Arme. Das Handbuch gegen sexistische Stammtischweisheiten wie solche, die ihr weiter oben gelesen habt, hat ein engagiertes Frauenkollektiv namens Sorority verfasst, und enthält viele unterschiedliche weibliche Stimmen aus den Bereichen Wissenschaft, Musik, Kunst, Wirtschaft und einigen mehr.

Im Buch könnt ihr für viele typische Sprüche ein entsprechendes Kapitel finden, euch Fakten und Meinungen dazu durchlesen und gute Argumentationentipps aneignen. Ihr habt euch schon immer gefragt, ob eine Frauenquote eine sinnvolle Lösung ist? Oder warum Feminismus nicht Humanismus heißen kann? Diese und viele weitere Fragen thematisiert „No more Bullshit!“ sehr kurzweilig in knappen Kapiteln, teils humorvoll, teils mit prägnanten Tipps zum jeweiligen Thema.

Das Buch ist in zwei Teile aufgeteilt, zunächst gibt es euch eine Übersicht zu Gesprächsdynamiken und Kommunikation bei aufeinander prallenden Meinungen. Kontern will geübt sein, daher gibt euch das Werk einige Basics an die Hand, wie beispielsweise Gesprächstaktiken funktionieren oder auch welche Macht Sprache haben kann. Im zweiten Teil geht es direkt zur Sache mit Sprüchen zum Pay Gap, vermuteten Eigenschaften bei Frauen (Stereotypen) oder auch zur Diskriminierung von Männern. Die Mischung aus Studien, Statistiken und Merkkästen gemeinsam mit einem übersichtlichen, einheitlichen Layout macht das Lesen flüssig und on point, Geistesblitze und erhellende Momente bleiben hier nicht aus.

Mir fehlen lediglich die Quellenangaben der jeweiligen Studien als Anhang im Buch, AutorInnen dieser werden genannt, jedoch gibt es beispielsweise keine Fußzeilen. Zudem sind mir manche Aussagen zu allgemein oder zu vage formuliert, sprich in meinen Augen nicht ausreichend im Buch belegt. Hier gilt aber auch wieder: Wissen wird manchmal auch einfach nur dadurch produziert, Meinungen von vielen Personen einzuholen (oder Statistiken zu erheben), was nicht per se unwissenschaftlich ist, sondern tatsächlich eine Wahrheit darstellt… dazu aber mehr im Buch!

Insgesamt fasst „No more Bullshit!“ sehr bekannte Aussagen und wichtige Themen kurzweilig und interessant zusammen, daher eine große Empfehlung von mir! Auch wenn man manche Fakten oder Tatsachen schon einmal gehört hat, ist das Buch ist für AnfängerInnen und Fortgeschrittene im Feminismus aber auch im (Argumentations-)Kampf gegen Sexismus gleichermaßen geeignet. Los geht’s!

Vielen Dank an den Verlag Kremayr & Scheriau für das Rezensionsexemplar!

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„Die Liebe zu den nicht perfekten Dingen“ von Haemin Sunim

Manche Bücher sprechen mich schon im Geschäft optisch sehr an. Oft ist es dann leider so, dass der Inhalt nicht ganz den Erwartungen entspricht. Bei „Die Liebe zu den nicht…

Manche Bücher sprechen mich schon im Geschäft optisch sehr an. Oft ist es dann leider so, dass der Inhalt nicht ganz den Erwartungen entspricht. Bei „Die Liebe zu den nicht perfekten Dingen“ von Haemin Sunim ist es aber anders. Es ist so ein schmuckes Buch, das man immer mal wieder irgendwo aufschlägt und sich an den schönen Illustrationen erfreut. Und nebenbei kann man dann noch etwas Lebensweisheit aufsaugen oder einen Ratschlag zu einem Thema bekommen.

Haemin Sunim ist ein koreanischer Mönch, der Zen-Buddhismus lehrt und buddhistische Bücher schreibt. Er tourt mit Lehrveranstaltungen durch die Welt und hat die „Schule der gebrochenen Herzen“ ins Leben gerufen, die Beratung und Meditation für Menschen mit diversen Problemen anbietet. Ziel dieses Buches ist, mehr Mitgefühl sich selbst und der Welt gegenüber zu entwickeln. Es soll Hoffnung machen in einer unvollkommenen Welt. Haemin Sunim hat Anregungen und Fragen von allen möglichen Menschen, denen er bei seinen Reisen begegnet ist, aufgenommen – seine Ratschläge finden sich ebenfalls in diesem Buch wieder.

Die acht Kapitel des Buches handeln zum Beispiel von Familie, Selbstliebe, Zusammenleben und Mut. Man findet sich beim Lesen der kleinen, gedichtartigen Textblöcke sehr häufig wieder. Jedes Überthema leitet Haemin Sunim mit einer kleinen persönlichen Erfahrungsgeschichte ein. Seine eigene spirituelle Reise stellt er im letzten Kapitel dar, dabei wirkt er aber nicht abgehoben, überheblich oder esoterisch. In seinen Texten beschreibt er häufig uns nur allzu bekannte Situationen und Gefühlslagen und gibt uns Handlungsanregungen. Zum einen bietet er Rat zur Umgangsweise mit Menschen in unserer Umgebung, von Partner bis Familie. Aber auch Inspiration und Hinweise zum Umgang mit uns selbst, unseren Gefühlen, Schwächen und Sorgen. Dabei wird er aber nie dogmatisch oder aufdringlich, sondern setzt kleine Impulse, die Gedanken anstoßen.

So erwischt Haemin Sunim die unbewussten Regungen und entlarvt auf sanfte Weise die menschlichen Gedankenprozesse und ihr Verhalten. Besonders angesprochen hat mich der Part zu Beginn des Buches, in dem er dazu aufruft, nicht zu nett zu sein. Hier geht es ihm vor allem darum, dass dieses allzu brave Verhalten darin ausartet, dass man jeden Ärger und jede Frustration nur herunterschluckt, was sich irgendwann in Depression oder Ängsten äußern kann.

In wenigen Fällen kann ich seinem Rat nicht zustimmen, doch zum Großteil finde ich seine Weisheiten modern und auf unser alltägliches Leben übertragbar. Insgesamt ist „Die Liebe zu den nicht perfekten Dingen“ ein sehr lohnenswertes und schönes Buch, das jeden von uns ein Stück weiterbringt und lehrt, der Welt und sich selbst mehr Mitgefühl entgegen zu bringen.

Vielen Dank an den Scorpio Verlag für das Rezensionsexemplar!

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Girlsplaining – Was es bedeutet, eine Frau zu sein

Feminismus ist – nicht zuletzt wegen der #metoo-Bewegung – wieder in aller Munde, aber eine Feministin zu sein wird bei weitem nicht immer als etwas Positives gesehen. Auch die Comic-Szene…

Feminismus ist – nicht zuletzt wegen der #metoo-Bewegung – wieder in aller Munde, aber eine Feministin zu sein wird bei weitem nicht immer als etwas Positives gesehen. Auch die Comic-Szene hat sich des Themas „Feminismus“ angenommen: Mit „Girlsplaining“ führt uns die in Berlin lebende Katja Klengel in ihre sehr persönliche, aber auch erschreckend nachempfindbare Lebenswelt und prägenden Erlebnisse ein und zeigt damit, wie wichtig es ist, sich auch im Alltag mit Feminismus auseinanderzusetzen. Der Titel bezieht sich auf das sogenannte „Mansplaining„, bei dem Männer davon ausgehen, dass sie über etwas besser Bescheid wissen als ihre Gesprächspartnerin(nen).

Die Graphic Novel mit reduzierter Farbpalette in Rot-Rosa-Tönen ist ein Rückblick der Autorin auf einige Schlüsselmomente in ihrem Leben. Zunächst berichtet sie, wie diese tatsächlich abgelaufen sind, dann wie sie die Situation aus feministischer Brille gerne gelöst hätte. Da erlebt sie zum Beispiel die Verurteilung von Klassenkameraden für ihren etwas haarigeren Körper, aber berichtet auch über ihr erstes Mal oder die Meinungen der Gesellschaft über männliche und weibliche Geschlechtsteile. Es wird explizit und selbstironisch, ohne Frage. Uns begegnen nur allzu bekannte und nachvollziehbare Situationen, die jedoch teilweise ins Absurde abdriften. Klengel bringt zentrale Themen wie Bodyshaming, Geschlechterklischees und Diskriminierung unterhaltsam und konkret zur Sprache.

Der Einstieg war für mich anfangs etwas holprig zu lesen, bis ich erfuhr, dass die ersten Kapitel des Buches in einem Online-Magazin veröffentlicht worden waren. Mit diesem Wissen macht der Anfang auch mehr Sinn. Die Message der Comic-Novel ist klar: Sexuelle Selbstbestimmung, mehr feministisches Selbstbewusstsein im Umgang mit doofen Sprüchen und unangenehmen Situationen. Einfach die kleinen und großen Stolpersteine des Frau-Seins. Aber was bedeutet das eigentlich, das Frau-Sein? Auch hier unternimmt die Autorin Versuche, das zu umschreiben: Es heißt wohl auch, für seine eigenen Bedürfnisse Sorge zu tragen. Scharf kritisiert Klengel die (oft) unbewussten Vorgaben, nach denen Mädchen und Frauen in der Gesellschaft leben und handeln sollen. Dabei kommt aber der Spaß auch nicht zu kurz, immer wieder gibt es Verweise zur Pop- (oder Geek-)Kultur und – insbesondere im handgeschriebenen Anhang – viele Tipps und weitere Empfehlungen, unter anderem zum Thema starke Frauenfiguren.

Für LeserInnen, die schon etwas mehr im Thema sind, ist „Girlsplaining“ eine unterhaltsame, bestärkende Lektüre. Für alle anderen ein Augenöffner, zum Beispiel wie viel Druck es macht, wenn man als Pärchen immer wieder Anspielungen zu hören bekommt, ob nicht bald Nachwuchs ins Haus steht. Ich frage mich jedoch, ob die Ernsthaftigkeit und der kritische Charakter des Themas durch das Abdriften ins Absurde ausreichend Gewicht bekommt. Manchmal steht die Autorin für mich etwas zu sehr im Mittelpunkt – einerseits mutig, die eigenen recht intimen Erlebnisse darzustellen und eben auch ein gutes Beispiel, seine Frau zu stehen, andererseits sind die Geschichten der Autorin für mich etwas zu intim, hier ist die Frage inwiefern solche einzelnen Erfahrungen immer auf generelle Probleme zurückzuführen sind. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass man auch Verantwortung für sich selbst übernehmen muss und sich nicht in der Opferrolle verliert. So sehen wir aber zumindest, wie man selbstbewusst und schlagfertig reagieren könnte.

Wir sollten alle mehr Heldinnen und Vorbilder füreinander sein!

Vielen Dank an den REPRODUKT für das Rezensionsexemplar! Eine Leseprobe von „Girlsplaining“ findet ihr hier.

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»Wir alle haben das Bedürfnis, uns als Teil der Natur zu begreifen.« Plötzlich Gänsevater Michael Quetting im Interview

Michael Quetting (44), Laborleiter am Max-Planck-Institut in Radolfzell, führte ein Forschungsprojekt mit Graugänsen durch. Doch was als Tierversuch geplant war, endete für ihn in einer einzigartigen Lebenserfahrung, bei der er…

Michael Quetting (44), Laborleiter am Max-Planck-Institut in Radolfzell, führte ein Forschungsprojekt mit Graugänsen durch. Doch was als Tierversuch geplant war, endete für ihn in einer einzigartigen Lebenserfahrung, bei der er zu sich selbst zurückfand und sich wieder als Teil der ihn umgebenden Natur begriff. In seinem Buch Plötzlich Gänsevater, das als Spiegel-Bestseller gelistet ist, beschreibt er die Erlebnisse mit den Graugänsen, angefangen bei der Geschichte von Nils Holgersson, die er den Gänsen noch im Ei vorliest, bis hin zur Entlassung seiner Schützlinge in die Freiheit.

Ich habe den sympathischen Autor im Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell getroffen und mit ihm über seine Erfahrungen gesprochen, über sein Ankommen bei sich selbst, über Tierversuche und über sein neues Buch.

Cat: Micha, kannst du mir vielleicht erstmal das Projekt ganz kurz skizzieren?

Michael Quetting: Bei uns dreht sich alles um Tierwanderung. Das können auch andere Tiere als Vögel sein, zum Beispiel Aale, die von Schottland nach Nordamerika schwimmen. Wir haben uns damals sehr für Vögel interessiert und vor allem für eine neue Generation von Datenloggern. Durch diese aufkommende Handynutzung wird die Sensorik total günstig, beispielsweise Beschleunigungs-, Lage- oder GPS-Sensoren. Also dachten wir, wenn die so günstig sind, packen wir die auf ein Messgerät, so streichholzschachtelgroß, und schauen, ob wir diese Daten auswerten können, wenn wir das Gerät einem Tier, in unserem Fall einem Vogel, auf den Rücken binden.

Um welche Daten geht es da genau?

Beispielsweise um Windgeschwindigkeit oder -richtung. Wenn jetzt zum Beispiel ein Bergsteiger im Himalaya in einem Basislager sitzt, kann er auf unserer Animal-Tracker-App sehen, die Streifengans Schorschi fliegt gerade an Annapurna vorbei auf 7.000 Meter, dann könnte er die Livedaten von Schorschi abfragen und wüsste dann, wie die Windgeschwindigkeit da oben ist. Im Moment weiß niemand, wie der Wind 2.000 Meter über Radolfzell ist, das kann man bisher nur näherungsweise bestimmen.

Was ist das denn für eine App? Kann die jeder runterladen?

Mit der App Animal Tracker kann jeder besenderte Tiere melden und deren Migrationsroute nachvollziehen. Und ja, jeder kann sie runterladen, sie ist gratis. (Anmerkung Cat: Ich habe die App am Abend nach dem Interview getestet und bin total begeistert. Es ist absolut spannend zu sehen, wie weit manche Vögel fliegen, aber auch die Routen von bestimmten Säugetieren kann man mit der App nachvollziehen.)

Flugroute eines Steinadlers in der App Animal Tracker. Foto: Cat

Auf Facebook habe ich gelesen, dass man dir vorwirft, es sei ethisch nicht korrekt gewesen, was ihr gemacht habt, weil ihr der Gänsemutter ihre Eier weggenommen habt. Wie stehst du dazu?

Das ist definitiv so, es ist ethisch wahrscheinlich nicht korrekt. Es war als Tierversuch geplant, aufgeschrieben, eingereicht und von der Ethikkommission in Freiburg als Tierversuch genehmigt. In erster Linie war es ein Forschungsprojekt zur Gewinnung von wissenschaftlichen Daten und die Tiere waren Forschungsplattformen, fliegende Messplattformen, reduziert gesagt. Da war erstmal nichts mit knuffigen Gänsekindern und so, das kam alles erst später. Die Prioritäten haben sich total verschoben. Zum Schluss war es Gänsefamilie mit Gänsevater mit Nebenbeiwerk wissenschaftliches Experiment.

Es gibt andere Versuchsleiter, die sagen, nach Abschluss des Experiments sind die Tiere zu euthanasieren, weil sie keine Möglichkeit mehr haben, sich in der Natur zurechtzufinden. Bei mir war das von Anfang an eine Bedingung. Ich habe gesagt, ich mache das nur, wenn die Tiere nachher in die Freiheit entlassen werden. Egal, was das für die bedeutet. Die Chance, dass eine geprägte Graugans in der Freiheit zurechtkommt, ist natürlich geringer als wenn sie dort groß wird. Es lauern einfach viele Gefahren da draußen. Die Gans kennt dann keine Angst vor Füchsen und weiß auch nicht, wie sie sich verhalten muss, damit der Fuchs sie nachts nicht frisst. Klar, das ist in ihrem genetischen Programm schon auch verankert, aber durch die Prägung haben sie definitiv einen Nachteil.

Foto: Michael Quetting

Woher hattest du denn diese Eier? Ich meine, was wäre ansonsten mit den Küken passiert?

Die Eier waren von einem Züchter in Norddeutschland.

Wozu züchtet er die?

Die Eier sind eine Delikatesse.

Das heißt, du hast den Gänsen ja eigentlich das Leben gerettet, oder?

Im Prinzip schon, ja.

Warum hast du das bisher noch nie so kommuniziert, wenn der Vorwurf kam? Das würde das Argument ja entkräften, schließlich hast du dem Muttertier dann gar nicht die Eier weggenommen.

Es ist mir einfach egal, es interessiert mich nicht. Den hardcore-militanten PETA-Freaks kannst du eh erzählen, was du willst.

Ja, da gibt’s vermutlich ein paar sehr dogmatische Exemplare. Du hast aber sicher auch schon vielen Gänsen das Leben gerettet, weil du sie jetzt nicht mehr isst, oder?  

(lacht) Ja, wahrscheinlich. Ich habe halt eine sehr intensive, persönliche Beziehung zu ihnen aufgebaut.

Aber nicht, weil du sagst, sie sind besonders intelligent oder irgendwas, warum man sie nicht mehr essen sollte.

Nein, Quatsch, es ist total bigottes Verhalten! Es gibt keinen Grund, warum ich keine Gänse esse, aber Rinder oder Schweine. Ich kann kein rationales Argument anführen, wo ich sagen würde, ich esse keine Gänse, weil… Wobei es natürlich immer noch mehr Sinn macht, eine Wildgans zu essen als ein Schwein aus Massentierhaltung. Dann lieber eine Graugans, die irgendein Jäger schießt.

Da hast du vermutlich Recht. Aber kommen wir zurück zu deinem Projekt. Wie sah so ein normaler Arbeitstag aus während des Projekts?

Eigentlich war es kein richtiger Arbeitstag. Ich musste gegen halb fünf oder fünf aufstehen und ins Bett ging es wieder, wenn es dunkel wurde. Der Tag war schon relativ lang.

Aber obwohl der Tag auf seine Art so stressig war, bist du doch in eine neue Welt eingetaucht, ganz ohne Computer, Menschen und den Stress, den man sonst so hat. Ich glaube, heute nennt man das Detox.

Jaja, auf jeden Fall, das war eine sehr besinnliche Zeit, in der man bei sich selber ankommen und in sich reinschauen konnte. Notgedrungen natürlich.

Hat sich das Ganze auf dein Privatleben ausgewirkt?

Ich hatte zu der Zeit eigentlich kein Privatleben. Meine Kinder kamen dann schon nach den ersten zwei, drei Wochen mal am Wochenende und haben sogar da übernachtet. Die ersten Wochen wollte ich aber wirklich niemanden sehen, damit die Gänse sich auf mich fokussieren.

Das ist sicher auch nicht so leicht, wenn man sein Privatleben für so ein Projekt vollständig aufgibt. Was war denn ansonsten die größte Herausforderung für dich?

Das ist eine gute Frage. Es gab viele Herausforderungen, aber ich glaube, die größte war, sich überhaupt auf das Ganze einzulassen. Wenn du dich nicht darauf einlässt, funktioniert es nicht. Wenn du denkst, ich mach‘ das jetzt einfach mal wie so einen normalen Arbeitstag, ich reiße acht Stunden runter und geh‘ dann wieder heim, das funktioniert halt nicht. Dein Leben ist einfach ganz anders in diesen drei Monaten.

Ja, das glaube ich dir, aber es gab ja sicher auch viele schöne Momente. Was war dein schönstes Erlebnis während des Projekts? 

Es gab viele schöne Erlebnisse. Aber ich glaube, die schönsten Erlebnisse waren schon, die Gänse aus dem Brutautomat rauszuholen, sie das erste Mal anzufassen, diesen Kontakt herzustellen und natürlich das erste Mal mit ihnen zu fliegen, das war schon sehr beeindruckend.

Foto: Michael Quetting

 Sicher auch, dass sie dann wieder mit dir gelandet sind.

Genau, es sind halt sehr soziale Tiere. Die wissen genau, dass sie dich da nicht verlieren dürfen.

Aber nach und nach waren sie ja dann irgendwann alle weg. Machst du dir manchmal Gedanken, was aus ihnen geworden sein könnte oder weißt du es sogar?

Nein, wissen tu ich das nicht. Von zwei weiß ich es, weil sie jetzt in einem Tierpark leben und einen hat man mal gesehen mit seiner eigenen Familie.

Woran erkennt man deine Gänse denn?

Die sind beringt, es gibt nicht so viele Graugänse, die beringt sind. Die Frau, die die Gans gesehen hat, hat sie fotografiert und auf dem Foto konnte man die Nummer auf dem Ring lesen.

Dann können wir ja in Zukunft Ausschau nach ihnen halten. Inwiefern hat die Zeit mit den Gänsen so rückblickend dein Leben oder dich selbst verändert?

Zum einen war das der Abschluss einer relativ schwierigen Zeit damals mit meiner Scheidung, da war das schon cool, mal drei Monate zu haben, in denen man sich nur um sich selber und um die Tiere kümmern muss. Aber auch, dass man in der Natur sein und bei sich selber ankommen kann. Da hat sich in gewisser Weise der Kreis geschlossen. Andererseits ist es natürlich auch so, wenn du mal so nah mit und in der Natur lebst für ein paar Wochen, dann wird dir auch bewusst, dass du einfach ein Teil von diesem großen Ganzen bist, dann öffnet sich dein Blick für andere Sachen, die du sonst gar nicht mehr wahrnimmst.

Was zum Beispiel?

Keine Ahnung, beispielsweise Insekten. Oder dass die Sonne aufgeht und dich wärmt, dass um dich herum alles lebt, dass es ganz viele soziale Systeme gibt, die da miteinander interagieren, dass Tiere Beziehungen untereinander haben, wie dieses Fasanenpaar, das ich in meinem Buch erwähnt habe, dass es aber auch so klassische Beziehungen sind, wie dass er immer rausläuft und guckt, ob die Luft rein ist und sie dann hinterherläuft. Solche Sachen halt.

Was würdest du denn Menschen, die diese Erfahrung nicht gemacht haben, mit auf den Weg geben?

Mit auf den Weg geben würde ich denen, dass es ganz wichtig ist, dass man sich Zeiten für sich selber schafft, um sich selber anzuschauen, um in Kontakt mit sich selber zu kommen. Viele Menschen sind überhaupt nicht mehr im Kontakt mit sich selber. Diese Bedürfnisbefriedigung liegt ja immer im Außen. Der Mensch versucht, seine Defizite dadurch zu befriedigen, dass er immer im Außen ist. Aber die eigentliche Zufriedenheit kriegt man nicht im Außen. Die kriegst du nur, wenn du nach innen schaust.

Foto: Michael Quetting

Peter Wohlleben hat ja auch diesen Bestseller geschrieben, Das geheime Leben der Bäume. Was glaubst du, warum sind diese Bücher, die sich mit Natur beschäftigen, gerade so erfolgreich?

Bedingt durch diese schnelllebige Internet-Informationsflutwelt, die dich rein kognitiv schon total überlädt, ist dieses Bedürfnis danach, sich als Teil der Natur oder eines universellen Systems zu begreifen, immer größer geworden. Das ist ja archaisch tief in jedem von uns verwurzelt. So wie andere Grundbedürfnisse des menschlichen Seins, wie der Trieb sich fortzupflanzen oder auch einfach sich geliebt zu fühlen.

Apropos Fortpflanzung, welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen der Erziehung von Menschen- und Gänsekindern?

Oh, da gibt’s einige. Auf beide musst du dich einlassen, du darfst nichts anderes nebenher machen. Die zeigen dir schon, wo die Musik spielt. Die tollen Sachen, die du erleben kannst, mit Menschen- oder Tierkindern, die entstehen erst, wenn du dich drauf einlässt. Man kann Gänsekindern natürlich auch nur bedingt Grenzen setzen und bestimmte Sachen, die einen nerven, wie diese Kackerei oder so, das kannst du ihnen nicht abgewöhnen, das machen die halt. Die Möglichkeiten sind begrenzt.

Nils Holgersson lebt ja auch eine Zeitlang mit Gänsen zusammen. Den Spitznamen bekommst du also sicher sehr oft. Nervt der dich schon?

Das kommt daher, dass ich den Gänsen, als sie noch im Ei waren, immer aus Nils Holgersson vorgelesen habe. Das hab‘ ich halt blöderweise mal gesagt und seitdem sagt das irgendwie jeder. Also es nervt mich eigentlich nicht, ich finde die Geschichte ja ganz nett.

Hast du schon ein neues Buch geplant?

Ja schon, aber ich habe noch keinen Verlag gefunden. Ich habe das zweite Buch deswegen geschrieben, weil ich einer gewissen Bevölkerungsschicht mal die Augen öffnen wollte. Das wäre auch definitiv mein letztes Buch in die Richtung gewesen.

Was hast du denn geschrieben oder ist das geheim?

Nee, gar nicht. Bedingt durch die Ehe mit einer Pferdenärrin, deren Lebensinhalt ausschließlich aus der Liebe und dem Umgang mit Pferden und anderen Tieren bestand und eben durch diese Gänsegeschichte habe ich viel mehr Einblick in Tier-Mensch-Beziehungen bekommen. Wie kann sowas aussehen und was passiert da? Dann wird dir erstmal bewusst, wie krank solche Tier-Mensch-Beziehungen oft sind, obwohl die meisten Leute denken, sie tun alles für ihr Tier. Guck dir mal die vielen Reiterinnen an, die ihr Pferd vierundzwanzig Stunden am Tag in eine enge Box stellen, in der es sich kaum umdrehen kann, holen es höchstens einmal am Tag für eine halbe Stunde raus, sitzen drauf und pesen durchs Gelände. Und dann wundern sie sich, dass ihr Pferd krank wird. Weil es den ganzen Tag in einer engen Box steht und aufgeschütteltes Heu fressen muss, von dem es eine Staublunge bekommt. Ach, da gibt es zigtausend Beispiele.

Find ich ein super Thema und bin gespannt darauf. 

Vielen Dank, Micha, für das schöne und interessante Interview und dafür, dass mich ein Buch endlich mal wieder in seinen Bann gezogen hat!

Plötzlich Gänsevater macht Wissenschaft emotional und zeigt uns, wie grenzen- und bedingungslos Liebe sein kann. Das Buch lässt uns träumen und abtauchen, es lässt uns staunen, lachen, aber auch weinen. Und das Wichtigste: es lässt uns für einen Moment den Atem anhalten.

6 Kommentare zu »Wir alle haben das Bedürfnis, uns als Teil der Natur zu begreifen.« Plötzlich Gänsevater Michael Quetting im Interview

Einfach leben – Der Guide für einen minimalistischen Lebensstil

Es gibt Bücher, die will man einfach gut finden. Das Cover passt, die Beschreibung ist ansprechend, die Meinungen im Umfeld (natürlich von der Filterblase) sind positiv. Manchmal muss man dann…

Es gibt Bücher, die will man einfach gut finden. Das Cover passt, die Beschreibung ist ansprechend, die Meinungen im Umfeld (natürlich von der Filterblase) sind positiv. Manchmal muss man dann aber feststellen, dass die Vorfreude größer war als das tatsächliche Erlebnis. „Einfach Leben – der Guide für einen minimalistischen Lebensstil“ von Lina Jachmann (Knesebeck Verlag, 2017 erschienen, 240 Seiten mit 200 farbigen Abbildungen, Softcover) ist so ein Buch. Es deckt viele spannende Themen ab, mit denen ich und viele andere täglich zu tun haben. Von Naturkosmetik über Ausmisten bis plastikfreier leben oder Achtsamkeit. Die Gestaltung des Buchs ist sehr ansprechend, minimalistisch gehalten und im Magazinstil mit vielen Fotos gefüllt. Die Autorin ist Kreativdirektorin und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Themen Lifestyle und Zeitgeist.

Minimalismus ist seit einigen Jahren ein relativ bekanntes Prinzip: Mehr Platz für die wichtigen Dinge schaffen durch Ausmisten von Überflüssigem und einem bewussten Umgang mit Konsumgütern. Dadurch entsteht mehr Überblick, weniger Reizüberflutung und eine neue Wertschätzung für die Dinge, die man besitzt. Mehr Momente statt Sachen. Weniger Dinge, mehr Qualität.

Bild: Verena

Das Buch beginnt mit dem „How-to“-Minimalismus und empfiehlt vor dem Ausmisten ein Ziel vor Augen zu haben, welches man sich am besten bildlich gestaltet. Wie sollen die Räume in der Wohnung/im Haus aussehen? Wie würde ich mich wohlfühlen? Um in das grundlegende Prinzip, das Downsizing oder auch Ausmisten, einzusteigen, kann man eine kleine Monats-Challenge machen, in der für jeden Tag eine Aufgabe gestellt wird. Oder ich visualisiere über einen Zeitraum, welche Plätze und Orte in der Wohnung wirklich genutzt werden.

Minimalismus bezieht sich aber nicht nur auf die Auswahl von Besitz um einen herum. Es ist auch ein Lebensstil. Wir lernen in Homestories einige minimalistisch lebende Menschen kennen, die einen besonderen Wohnsitz wie ein Hausboot oder einen Bauwagen gewählt haben und einen Ausschnitt aus ihrem Leben zeigen oder in den Bereichen Mode, Kosmetik oder Ernährung minimalistische Ansätze verfolgen und in Interviews darüber berichten. Das Buch ist in die vier Kapitel „Mode“, „Körper“, „Wohnen“ und „Lifestyle“ unterteilt. Gespickt sind die Seiten mit Links, Buchempfehlungen oder weiterführenden Tipps. Durchgängig ist alles reich bebildert und am Ende finden wir eine kompakte Übersicht an weiterführenden Seiten, Blogs und Shopempfehlungen.

Bild: Verena

Das Konzept Minimalismus ist etwas schwierig zu fassen, es geht einerseits um den Abschied von Ballast, aber „Einfach leben“ packt unter dieses Stichwort so viele Themen, die für mich eher zu einem „umweltbewussten, nachhaltigen Leben“ gehören. (Unter dem Begriff „Einfach leben“ findet man u.a. auf Wikipedia dazu noch mehr Begriffe, die mit Minimalismus in Verbindung gebracht werden).

Es tauchen in diesem Buch sehr viele Themen und Produkte auf, die in der an Minimalismus interessierten Zielgruppe beliebt sind, dies aber für meinen Geschmack etwas zu undifferenziert. Ich finde es als Leserin natürlich toll, wenn bei einem fokussierten Lebensstil auch Nachhaltigkeit nicht zu kurz kommt und beispielsweise DIY-Rezepte für Pflegeprodukte angeboten werden. Es wirkt auf mich allerdings etwas zu willkürlich und oberflächlich. Wie ein Versuch, so viele Reizthemen in ein Buch zu packen, wie möglich. Da werden Kosmetikprodukte abgebildet, aber nicht erläutert, warum genau diese Produkte empfohlen werden. Mir ist klar, dass Minimalismus und ein bewusstes, achtsames Leben Hand in Hand gehen. Aber mir fehlen bei vielen Punkten Quellen, wie zum Beispiel bei der Empfehlung zum Ölziehen. Gleichzeitig wird zu viel Werbung gemacht – für Unternehmen, für Apps, für Shops. So entwickelt sich Minimalismus zu einer neuen Form der LOHAS. „Einfach leben“ lässt alles super easy, clean und locker erscheinen. Ich hätte mir hier unbedingt mehr kritische Aspekte gewünscht, zum Beispiel beim Thema Verhütung mit NFP.

Bild: Verena

Insbesondere EinsteigerInnen in das Thema werden hier eine Fülle an möglichen Lebensentwürfen, Produkten und Konzepten finden, die sicherlich Lust auf ein bewusstes, geordnetes Leben machen. Aber ist man nur dann bewusst und fokussiert, wenn man ausmistet und Öko-Produkte kauft? Mir fehlt hier die gesellschaftliche Vision, denn das Buch lässt streckenweise den Eindruck gewinnen, dass Minimalismus vor allem für einen ausgewählten Kreis aus privilegierten BesserverdienerInnen eine Lösung ist, aus ihrem schnelllebigen Alltag auszubrechen. Minimalismus als Wohlfühlgarantie, so wird es den LeserInnen vermittelt.

Bild: Verena

Einige der vorgestellten MinimalistInnen sind eher Gutverdiener, die sich dann mal eben das Haus auf dem Land oder das schick designte Hausboot kaufen können. Versteht mich nicht falsch, bewusster Konsum und nachhaltige Produkte sind wichtig, aber der Sinn von Nachhaltigkeit geht weiter. Minimalismus sollte nicht nur ein Trend sein, sondern das Individuum und die Gesellschaft umfassen. Um wirklich etwas zu ändern reicht es eben nicht nur, wenn ich es mir stylisch und ordentlich bequem mache. Der Guide geht nicht wirklich tiefer und differenziert auf grüne Themen ein, erklärt keine komplexeren Zusammenhänge oder ökologische Themen, lediglich beim Thema Mode wird auch die gesellschaftliche Relevanz von Minimalismus aufgezeigt.

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich habe hier ein paar hilfreiche Inspirationen erhalten. Themen wie Capsule Wardrobe, Zero Waste Tools oder nachhaltige Mode kommen nicht zu kurz. Viele Hinweise kann man sich aber auch durch diverse Zeitschriften, Blogs und über Instagram holen. Zum Blättern und eben für Neulinge auf den Gebieten der Nachhaltigkeit und des Minimalismus ist es ein reiches Sammelsurium an Ideen und Konzepten. Wer sich aber tiefergehend mit diesen auseinandersetzen möchte, könnte unter Umständen etwas enttäuscht werden.

Vielen Dank an den Knesebeck-Verlag für das Rezensionsexemplar!

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