Eigentlich heißt er ja Zeu. Für mich wird er aber immer der griechische Göttervater Zeus sein: Wie vom Himmel herab gestiegen ist er plötzlich vor mir gestanden oder besser gesessen in seinem verbeulten Kleinwagen, von dessen ursprünglich schwarzer Farbe dank der roten Erde hier im Nationalpark Chapada Diamantina kaum mehr etwas zu erkennen ist. „Ich habe noch ein Zimmer frei“, diese – englischen(!) – Worte klingen jetzt noch wie Musik in meinen Ohren.
Es ist nicht einmal 6.00 Uhr früh. Ich bin gerade mit dem Nachtbus aus Salvador samt Kleintransport aus der nächstgelegenen Stadt Palmeiras hier im Vale Do Capão angekommen und schnurstracks zu meiner Alberque gestapft. Dort hatte ich via Facebook ein Bett gemietet – 25 Reais mit Morgenkaffee hieß es, und die Empfehlung einer Rezeptionistin im Hostel El Misti tat ihr Übriges. Allein vom Besitzer ist keine Spur: Fünfmal bin ich vor der Alberque auf und ab gegangen, habe halb wache Gäste um Rat gefragt, an verschiedene Türen geklopft, die Nachbarin aus dem Bett geklingelt. „Er wird wohl noch schlafen“, so die lapidare Erklärung. Die hilft mir jetzt aber nichts: Ich bin hundemüde von 5 Stunden rumpeligem mehr Wach- als Schlafzustand. Ich will einfach nur ein, zwei Stündchen schlafen, in einem Bett!
Und dann kommt Zeu(s)! Anfangs bin ich skeptisch: Den Ratschlag, nicht mit Fremden mitzugehen, habe ich schon öfters missachtet – ein weiteres Mal zählt nicht mehr. In meinem Trance-Zustand steige ich also zu diesem bärtigen Brillenträger mit grauem Kraushaar, schlabbrigem Spagettihemd und kurzer Trainingshose ins Auto. „Wohin geht’s denn?“, frage ich noch kurz, schon ruckeln wir über die Sandstraße – asphaltierte Wege gibt es in Capao nur im Dorfzentrum – auf einen kleinen Hügel hinauf. „Chales do Zeu“ begrüßt uns ein Anschlagbrett mit bunter Schrift, das sich frech zwischen dem üppigen Grün der Büsche und Bäume ringsum seinen Weg geschlagen hat.
- Darf ich vorstellen: Mein kleines Häuschen. Foto: Doris
Das ist also mein Zuhause für die nächsten fünf Tage! Die Überraschung ist groß: Zimmer, nein, es ist ein kuscheliges, kleines Lehmhaus – eines von mittlerweile neun, das der Salvadorianer dort in den Hügeln über Capão gebaut hat. „Fünf Jahre bin ich immer wieder gekommen, bis ich so viel Geld angespart hatte, um mir den Grund zu leisten“, erklärt mir der Künstler später. Dass er sich in das Stückchen Erde verliebt hat, liegt vor allem am Ausblick – und ich kann es ihm nicht verdenken. Keine zwei Sekunden dauert es, bin auch ich voll entflammt: Gaskochnische, Badezimmer, ein tonerdener Wasserkrug mit Filter fürs Leitungswasser, ein Traumfänger über einem mit bunter Decke bestücktem Einzelbett … Das Beste aber befindet sich im zweiten Stock: Wer über die Holzleiter hinaufklettert, der wird dort nicht nur vom himmlischen Doppelbett mit Moskitonetz empfangen, sondern vor allem von einem Ausblick über das Tal, der mich von jetzt an Morgen für Morgen zweifeln lässt, ob ich überhaupt aufgewacht bin oder einfach nur weiter träume.
Ich bin angekommen! Genau von diesem Ort habe ich geträumt, als ich heute früh vor der Alberque gestanden und einen kurzen Blick in die winzigen, dunklen Kammern mit Stockbetten geworfen habe. Genau diesen Platz für mich, diese Auszeit habe ich gebraucht nach intensiven Arbeits- und Reisewochen hier in Brasilien. Hier kann ich entspannen und meditieren, meine Yoga-Matte ausbreiten und den Tag mit Sonnengrüßen beginnen. Hier kann ich mit einem frisch gebrühten Kaffee an der Feuerstelle draußen vor meinem blau bemalten Häuschen sitzen und ein Buch lesen. Oder einfach nur auf die grünen Berge rundherum starren und den dramatisch aussehenden Wolken, die ab und an einen Regenschauer rauslassen, beim Wandern zusehen. Pläne über Pläne… aber die müssen warten. Schlaf geht vor, ich falle wie tot ins Bett!
Zwei Stunden später bin ich dann startklar: Ich will ins Dorf, dessen bunte Häuser samt Hippie-Läden mich schon zuvor beim Aussteigen aus dem Bus neugierig auf mehr gemacht haben. Zum Einkaufen, Frühstücken, Wandertouren ausmachen. Es sollte wieder anders, viel besser nämlich, kommen! „Bist du Andrea?“, versuche ich mein Glück, als zeitgleich mit mir eine Frau die Stufen von Zeus anderen Chales hinuntersteigt. Die zierliche Blondine mit Kapperl, Schlabberpants und Boy-T-Shirt schaut zuerst etwas verblüfft, stottert ein paar Worte in Portugiesisch und grinst mich schließlich an: Tatsächlich, Zeu hat sich nicht geirrt! „In den Chales wohnt noch eine andere Österreicherin namens Andrea“, hat er mir auf der Fahrt zum Häuschen verraten. Ich habe an ihm gezweifelt! Österreicher!? Zwei an einem Ort?! Er wird sicher Australier meinen!? Doch nein, die gebürtige Oberösterreicherin ist wirklich seit zwei Wochen in Capão und wird gleich von mir zum Frühstück verschleppt. Bei Sucos, den großartigen frisch gepressten Fruchtsäften, die – wie in Kolumbien und Ecuador – auch hier in Brasilien auf meinem täglichen Speiseplan stehen, erzählen wir uns unsere Lebens- und vor allem Reisegeschichten. Zum vierten Mal ist die Lebens- und Sozialberaterin bereits in Brazil, zum zweiten Mal in Capão – und bei Zeu. „Es ist der beste Ort um aufzutanken“, meint sie – und ich spüre schon jetzt, dass sie damit auch für mich den Nagel auf den Kopf trifft.
„Woher aus Österreich seid ihr denn?“, kommt vom Nachbartisch eine männliche Stimme, „ich bin der Bernhard aus Niederösterreich.“ Langsam wird mir klar: Wundern darf ich mich hier in Capao über gar nichts. Tatsächlich sitzt neben uns ein weiterer Landsmann, ein junger Biobauer aus Hollabrunn, der jedes Jahr von Dezember bis März auf Reisen geht – und dafür vom Rest der Bauernbevölkerung für verrückt erklärt wird. „Dabei ist im Winter nichts am Hof zu tun“, meint er, der mit seinem kurzrasierten Kopf, von dem zwei kleine Dreads stehen, weniger auf ein Kartoffelfeld als hier in die backpackende Alternativ-Szene passt.
Ein reisender Bauer, drei Österreicher an einem Ort mitten in Brasilien… spätestens jetzt erinnere ich mich an Zeus Worte, die mir wie ein Versprechen scheinen: „Capão ist ein magischer Ort, hier ist alles im Fluss.“ Ich soll diese Wahrheit in den nächsten vier Tagen, die ich vor allem mit ausgedehnten Wandertouren in der Umgebung verbracht habe, noch öfters erfahren.
Zum Beispiel auch an meinem letzten Abend! „Wisst Ihr, wann die Vorstellung beginnt?“ Die Frage einer Amerikanerin, die sich an unseren Tisch gesellt, löst bei Andrea, unseren beiden polnischen Bekannten und mir mittlerweile nur noch Lachen aus. Seit drei Stunden sitzen wir bei Bier und hausgemachten Kuchen auf den selten unbequemen Steinstühlen im Freien. Und warten! Zwei Tage zuvor hat mir Andrea „ihr“ Capão gezeigt, in dem sie vor sechs Jahren zwei Monate gelebt und gearbeitet hat. Ein Schild hat meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen: „Zirkus“ steht darauf geschrieben. Wie, Capão hat einen eigenen Zirkus? Tatsächlich wird im kleinen Dorf, das aus sage- und schreibe drei Straßen besteht und noch immer keine Handymasten (dafür aber ein paar Internet-Cafés) aufgestellt hat, seit 16 Jahren ein Zirkus betrieben. Und wie es der Zufall (der Fluss?) will, findet eben heute – an diesem Samstag – dort eine Veranstaltung statt. Es ist das 8. Treffen einer Künstlergruppe, so kann Andrea dank ihres guten Portugiesisch herausfinden. Beginn: 18.00 Uhr.
Inzwischen ist es 21.00 Uhr, das rote Zirkuszelt ist beleuchtet, Leute kommen und gehen wieder … allein die Vorstellung hat noch nicht begonnen. „Sie warten, bis genug Publikum da ist“, hat eine der beiden Polinnen erfahren. Macht (brasilianischen) Sinn, den übrigens unser Co-Österreicher Bernhard bereits begriffen hat: Kaum taucht er um 21.15 Uhr auf, kommen auch schon Clowns aus dem Zelt und trommeln die Menschen zusammen. Es geht los, es geht los! Das Warten hat sich gelohnt, nicht nur wegen der großartigen Gesellschaft. Die Vorstellung treibt uns die Lachtränen in die Augen, lässt uns staunen, die Zeit wie im Flug vergehen. Italienische und argentinische (Gast-)Akrobaten wechseln sich mit einheimischen brasilianischen Musik-Gruppen ab, Clowns heizen dem Publikum mit portugiesischen Witzen und international verständlichem Slapstick ein. Vier Stunden lang, schließlich leben in und rund um Capão viele Künstler – und die können gar nicht aufhören zu performen und so dieser Gegend ihre Liebe sowie Dankbarkeit zu zeigen.
Ich kann sie verstehen. Auch ich ertappe mich in den vier Tagen immer wieder dabei, einfach nur dankbar zu sein – für die Auszeit, für die Leichtigkeit, für die Freundschaften, für die Energie an diesem Ort und dafür, wieder einmal zu erkennen, dass alles Sinn macht und so geschieht, wie es kommen soll.. „Normalerweise spreche ich niemanden auf der Straße wegen eines Zimmers an“, meint Zeu am letzten Tag beim Abschied, „du warst mein erstes Mal.“ Allein dafür wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen, meinem göttlichen Retter!
Ein Chale von Zeu kannst auch du mieten: Kosten für eine Person für ein ganzes Häuschen 40 Reais!
Tages-Wandertouren, die ich gemacht habe und somit empfehlen kann:
- 3 Stunden von Capão nach Aguas Claras
- Kurze Tour (ca. 1 Stunde) von Capão nach Rio und Cachoeira Preta
- 2,5 Stunden Wanderung nach Cachoeira da Fumaca