Vor dem Hintergrund der europäischen Turbulenzen habe ich mich auf die Mission begeben, europäische Werte und Anliegen zu identifizieren. In der Interview-Serie #ThisIsMyEurope spreche ich mit Menschen rund um den Kontinent und versuche herauszufinden, was für sie „Europa“ bedeutet. Dieses Mal habe ich Vira in Lutsk in der vom Krieg zerrissenen Ukraine interviewt.

„Für die meisten Ukrainer bedeutet Europa eine Alternative. Machen wir weiter mit unseren sowjetischen Sozialismus? Oder wählen wir einen anderen Weg?“ Vira Orlovska (26) arbeitet als Lehrerin an einer Privatschule in Lutsk, Ukraine. Vira bedeutet „Glaube“, der Name wurde ihr von ihrem Vater gegeben. Er sagte der Familie, dass er den Namen zufällig ausgewählt hat, gestand allerdings später, dass er ihn schon die ganze Zeit im Sinn hatte. Ich spreche in einer Zeit mit ihr, als die Ukraine jedes kleinste bisschen an Glauben gebrauchen kann: „Es gibt eine allgemeine Stimmung der Enttäuschung.“

Darüber zu sprechen, was Europa bedeutet heißt, über den Krieg zu sprechen. Lutsk mag weit von den Kämpfen im Osten entfernt sein, trotzdem beeinflussen diese die öffentliche Stimmung. Vira bringt wiederholt ihre Frustration über den Euphemismus, der den Konflikt umgibt, zum Ausdruck. „Offiziell weigert man sich, es Krieg zu nennen. Aber hier im Krankenhaus sind 50 Soldaten die sich von ihren Wunden erholen. Jeden Tag verlieren Familien ihre Söhne und Väter. Wenn wir das nicht Krieg nennen können, was ist es dann?“

Bildung und Kultur

Vira versucht ihre persönlichen “two cents” einzubringen indem sie die Bildung in der Ukraine ändert. “Ich habe mir darüber sehr viele Gedanken gemacht. Ich bin kein Ökonom, ich bin nicht das Militär. Ich bin eine Lehrerin. Jeder sollte das beitragen, was er am Besten kann.“ Vira kam vor kurzem aus Potsdam in Deutschland zurück, wo sie an einer Schule im Rahmen eines Europäischen Freiwilligenprojektes gearbeitet hat. Zurück in ihrer Heimatstadt, ist sie außer sich, als sie sieht, dass viele prägende Aspekte des Lebens zur Zeit vernachlässigt werden. „Mit unserer kaputten Wirtschaft kümmern wir uns nicht um die Dinge, die uns Erholung bringen könnten. Bildung und Kultur sind am unteren Rand der Liste gerade zu einer Zeit, wo die Menschen eine Pause brauchen und die Möglichkeit bekommen sollten sich auf andere Dinge zu konzentrieren.“ Vira stellt fest, dass im aktuellen Bildungssystem, zu wenig Aufmerksamkeit auf die einzelnen Individuen gerichtet wird. Deutschland fühlte sich anders an. „In Europa gibt es das Bestreben, Bildung zu geben – eine Ausbildung. Wir brauchen einen Weg, um jungen Menschen zu zeigen, dass sie Ideen entwickeln können, wir müssen ihnen zeigen, was sie wirklich können.“

Was Europa ist und was es für die Ukraine sein kann, sorgt für bissige Bemerkungen. „Für mich funktionieren Europa und die EU so, dass sie einen gemeinsamen Raum schaffen. Die Länder kommen zusammen und unterstützen einander wirtschaftlich. Ist dieser langweilige Teil aus dem Weg geschaffen, können sie den Fokus auf die Dinge legen, die wirklich wichtig sind. Kultur, Bildung, Ausbildung.“ Bei der Frage nach der möglichen Provokation der Russen, als die EU der Ukraine ein Handelsabkommen anbot, antwortet Vira schnippisch: „Wir sind nicht in einer Interessensphäre. Wir sind ein eigenes Land, wir können unseren eigenen Weg wählen. Dieser Krieg ist nicht Europas schuld. Es ist die Schuld der Russischen Föderation mit ihrem massiven Ego. Ich denke, das ist offensichtlich. “

Enttäuscht und betrogen

In Lutsk sind die deprimierenden Folgen des Konflikts zu spüren. „Während und nach dem Maidan Protest waren wir voller Hoffnung. Jetzt fühlt sich jeder super enttäuscht und betrogen.“ Vira bringt ihren Vater, ebenfalls Lehrer, ins Gespräch. “Er hat hier für eine sehr lange Zeit unterrichtet. In den vergangenen Monaten wurden sieben seiner ehemaligen Studenten im Kampf getötet und zurückgebracht um begraben zu werden. 18 Jahre alt, 23 Jahre alt… “ Vira hofft, dass in Zukunft die Jugendlichen der Ukraine ein anderes Schicksal erleben dürfen.“ Ich finde Inspiration in der “World Youth Alliance”. Ihr zentrales Thema ist die Förderung der Menschenwürde. Es ist ein Wert, der wirklich gut zu Europa passt, es könnte sein Kernwert sein. Um das jedoch zu erreichen brauchen wir zuerst und vor allem, Frieden.“ Wer wird diesen Frieden verwirklichen? „Wir müssen irgendwie Putins Leute heraus bekommen. Er wird nicht von alleine gehen. Dafür brauchen wir Unterstützung. Inzwischen ist es mir egal, von wem sie kommt. Aber es muss getan werden.“

Dieser Artikel wurde auf Oneworld.nl erstveröffentlicht, dieses Interview ist Teil 3 der Serie #ThisIsMyEurope von Reinier Vriend. Vielen Dank an Moni für die Übersetzung!