Wie durch Zahnstocher hochgezurrt stieren meine Augen an die Decke. Nicht ich starre, ich werde gestarrt. Denken kann ich schon lange nicht mehr, ich bin einfach nur müde. Alles an mir sehnt sich nach Schlaf, nach Erholung. Etwa dreißig Minuten lang habe ich es geschafft, doch jetzt liege ich bereits seit gefühlten Stunden hier – und jeder Versuch, endlich in die Ruhe zu fliehen, scheitert. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Meine Erschöpfung oder das Gefühl der Enttäuschung, die mit den Tränen hoch schwappt.
Von unten dringt Grölen und Lachen: Lautstark werden in gebrochenem Englisch Reisepläne ausposaunt. Aus britischen Antwortfetzen höre ich Partygeschichten von Rios Karneval. Es ist 2 Uhr morgens, verdammt, ich will einfach nur schlafen! Ich bin zu müde, um es nach unten zu schreien. Wozu auch, hat ja die letzten fünf Stunden nichts gebracht. Schweiß tropft mir von der Stirn. Ich mache mir gar nicht die Mühe, ihn mir abzuwischen: Es gibt keine Klimaanlage, keinen Ventilator im Gemeinschaftsraum des Hostels, auf dessen abgewetzter Plastik(?)-Couch ich hier liege. Nicht freiwillig. Oder doch?
Willkommen in Babilonia! Willkommen im Chill and Surf!
„Es ist alles voll. Ich kann dir nur noch die Couch oder die Hängematte zum Übernachten geben.“ Zuerst halte ich die Worte von Matthias für einen Witz, einen sehr schlechten. Ich war doch extra zwei Tage früher nach Rio de Janeiro zurückgereist, um in seiner Herberge „Chill and Surf“ zu schlafen – und darüber zu berichten. Schließlich ist es nicht irgendeine Unterkunft: „Ich habe einen Österreicher getroffen, der in einer Favela in Rio ein Hostel betreibt“, so hat sich mein Arbeitskollege vor meiner Abreise nach Brasilien bei mir verabschiedet, „willst du den Kontakt?“ Klar konnte ich da nicht widerstehen. Ein Österreicher. Ein Hostel. In einer Favela. In Brasilien. Die Kombination klang einfach zu interessant. Als ich dann noch bei Recherchen entdeckte, dass das Hostel-Gebäude von Star-Architekten Niemeyer erbaut wurde, war es komplett um mich geschehen. Das muss ich mir anschauen! Vor allem aber will ich mit österreichischen Betreiber, Matthias, sprechen.
Wie hast du das Haus vor rund dreizehn Jahren überhaupt entdeckt? Wie bist du auf die Idee gekommen, in der Favela Babilonia ein Hostel zu starten? Arbeitest du mit den Bewohnern der Favela zusammen? Und wie findest du es, dass jetzt die Siedlungen, die früher der Inbegriff von Gewalt, Chaos, grenzenloser Armut und Drogenkriegen waren, immer häufiger Eingang in Reiseführer finden? Die Fragen türmen sich in meinem Kopf – auf die Antworten muss ich aber bis zum Ende meiner Reise warten. Erst dann ist Matthias wieder in Rio.
Dann solle ich doch einfach ins Hostel kommen – und ja, auch dort zu übernachten wäre kein Problem. Kostenlos, wenn Platz ist. Das alles wird mir Stück für Stück durch Matthias‘ Bruder Phil, der in Portugal ein Hostel betreibt, per E-Mail ans Herz gelegt. Ich tue es und werfe meine Entscheidung über Bord, den Favela-Tourismus nicht zu unterstützen. Weil ich Sensations- und Katastrophen-Tourismus nicht mag. Weil ich nicht weiß, ob die Armut der Leute dadurch geringer wird. Weil ohnehin jeder, der nach Rio de Janeiro reist, automatisch mit den Favelas konfrontiert wird, den Armenbezirken, die die Hügeln über der Stadt besiedeln und somit für jeden sichtbar über dem Tal hängen.
Die Zugänge zu den Favelas sind oft nahtlos, aber eindeutig spürbar – das stelle ich fest, als mich das Taxi hoch zum „Chill and Surf Hostel“ bringt: Da stehen in der Straße Nossa Senhora de Copacabana in jenem gleichnamigen Wohnbezirk schicke Häuser mit gepflegten Grünflächen hinter Stahlzäunen; während in der Nebenstraße die Häuser einfach, ihre Wände mit Graffiti beschmiert und die steilen Wege teils mit holprigem Beton ausgebessert sind. Arm ja, aber gefährlich? Nein, gefährlich scheint die Favela Babilonia nicht zu sein. Sie gehört schon lange zu den „befriedeten“ Favelas, jenen Siedlungen also, aus denen die Gewalt, die Drogen, das Chaos verbannt und in denen die „Ordnung“ durch Polizei-Stationen kontrolliert wurde.
Herzlich werde ich hier aber dennoch nicht willkommen geheißen. „Couch oder Hängematte“ – so lautet die Entscheidungsfrage. Matthias ist zwar glücklich darüber, dass ich über ihn schreiben will, möchte mich auch gern morgen durch die Favela führen – ein Bett hat er aber dennoch nicht für mich. Nicht einmal im Dorm. Ich darf auf der Couch im Gemeinschaftsraum schlafen, 40 Reais pro Nacht zahlen und – wenn niemand anderer kommt, der die zu Karneval verlangten 140 Reais für ein Dorm-Bett zahlt – vielleicht doch in einem der freien Betten schlafen. Ich bin völlig überrumpelt, mir versagen die Worte. Und ich bin müde: Gestern Nacht bei der Busfahrt habe ich kaum ein Auge zugemacht, ich will einfach nur ins Bett. Wenn es sein muss, auch auf die Couch.
„Das Management hier hat die letzten drei Jahre das Hostel schlecht gewirtschaftet“, erklärt mir später der französische Freund von Matthias, der mit Ringen unter den Augen mehr schlecht als recht Herr der Lage ist. Er wird die Couch mit mir teilen, meinte er, wie schon die letzten zwei Wochen. Zum Schlafen komme er ohnehin nicht viel, schließlich seien er und Matthias nur hierher gekommen, um das Hostel wieder zur Nummer eins in Babilonia zu machen. Koste es, was es wolle – meint er noch und zeigt mir sehnsüchtig Bilder von seinem Zuhause, dem Beach-Hostel in Kolumbien, wo Matthias und er normalerweise leben sowie arbeitet. Ich merke, wie mir das Denken einen Streich spielt… Bett, Bett, Bett ist alles, was ich noch in meine Gehirnwindungen bringe. Morgen ist auch noch ein Tag.
Ein Morgen gibt es hier für mich nicht! Nach vier Stunden Quälerei auf der Plastik-Couch, in einem Hostel, das keine Ruhephasen kennt und dessen Besitzer sich offenbar nicht für seine Gäste interessiert, ist mir das klar. „Ich brauche ein Bett für die nächsten Nächte“, schicke ich ein Verzweiflungs-Email (immerhin, das WiFi funktioniert!) an Fabio, einen Bekannten aus Rio. Es ist Karneval! Wie aussichtslos die Situation ist, ist mir bewusst. Und doch bekomme ich keine fünf Minuten später ein Mail: „Ich habe etwas für dich.“ Was, das ist mir egal. Es kann nur besser sein als die Situation im „Chill and Surf“. Und schreiben möchte ich über das Favela-Hostel ohnehin nicht mehr, schade über die vertane Chance!
Zwei Stunden später liege ich in einem herrlichen, frisch gemachten, sauberen Bett im Botanic Hostel. Es gehört einem Bekannten von Fabio, hat vor drei Wochen aufgesperrt, ist auf Nachhaltigkeit ausgelegt und alle sind rundum bemüht, die Gäste zu versorgen – kurz, es ist perfekt! Besser, als ich es mir wünschen konnte.
Und die Moral von der Geschichte? War diese Begegnung eine Lektion in Sachen Grenzen? Oder war es eine Lernerfahrung in Sachen Scheitern? Sollte ich erfahren, dass ich für Geschichten doch nicht über Leichen gehe – schon gar nicht über meine eigene? „Dass ein Österreicher sich so respektlos einer Landfrau gegenüber verhält, versteh ich nicht. Aber du hast unglaubliches Glück“, kommentiert Fabio das Erlebte bei einem Abendessen, „du bist zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“
„Es zeigt die Gier der Menschen, die alles zerstört“, kommentiert mein Freund Matthias (nein, nicht der Hostel-Betreiber, ein anderer) eine Woche später in Berlin meine Erfahrung. Ich muss beiden Recht geben. Und beide sagten, ich sollte die Geschichte erzählen – einfach so. Das habe ich jetzt getan. Die Moral, die kenne ich aber bis heute nicht – vielleicht muss ich das ja auch gar nicht. Ich weiß nur, mein Experiment Favela-Nacht werde ich wohl so schnell nicht vergessen!
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