In meinem sprachwissenschaftlichen Beitrag über Nachhaltigkeit bin ich den Ursprüngen des Begriffes ein wenig auf den Grund gegangen. Heute möchte ich einige Stimmen zu Wort kommen lassen, die auf der…
In meinem sprachwissenschaftlichen Beitrag über Nachhaltigkeit bin ich den Ursprüngen des Begriffes ein wenig auf den Grund gegangen. Heute möchte ich einige Stimmen zu Wort kommen lassen, die auf der sprachlichen Ebene einer „nachhaltigen Entwicklung“ nicht so viel abgewinnen können. Was mein Interesse geweckt hat, war ein Abschnitt im Brockhaus-Lexikon (Bd. 19, 2006, S. 235), der mit der Überschrift „Kritik“ gekennzeichnet ist. Vier Punkte werden dort im Weiteren aufgeführt, die darauf eingehen, dass der Begriff Nachhaltigkeit beliebig, ideologisch täuschend, utopisch oder schier illusionär sei. Doch was für eine Argumentation verbirgt sich dahinter?
Nachhaltige Entwicklung als Beliebigkeit
Grundsätzlich sei niemand dagegen, nachhaltig zu wirtschaften, das Wort aber sage inhaltlich nichts Konkretes aus, ist dort zu lesen. „Das Nachhaltigkeitspostulat sei inhaltlich leer. […] Unter der Flagge der n. E. [= nachhaltige Entwicklung] könne man trotzdem für komplett gegensätzliche Dinge eintreten.“
Das heißt, wenn ich es in meine eigenen Worte übersetze: Etwas als nachhaltig zu bezeichnen, sei schwammig. Das Argument richtet sich gegen den inflationären Gebrauch, der vor allem in wirtschaftlichen Betrieben Einzug gehalten hat. Nachhaltigkeit ist schick, en vogue, das ultimative Verkaufsargument. Festgelegte Kriterien, wann etwas als nachhaltig gilt und wann nicht, gibt es bisher nicht. Es ist im höchsten Maße relativ, denn gemessen an einem bisherigen Standard kann da schon etwas als nachhaltig gelten, was anderen ökologisch denkenden und handelnden Menschen, die Haare zu Berge stehen lässt. Mich persönlich erinnert dieses Argument auch ein bisschen an die fortwährende Diskussion, wann etwas wirklich „Bio“ ist und wann nicht, denn auch hier gibt es in vielen Bereichen noch Unklarheiten und – sagen wir mal – „Interpretationsspielräume“.
Nachhaltige Entwicklung als ideologische Täuschung
Damit verwandt ist auch das zweite Argument, das im Brockhaus Erwähnung findet: „Der Nachhaltigkeitsbegriff verdecke die Interessen der realen Akteure und die faktischen Machtkonstellationen. Jeder benutze n. E. wie es ihm passt, um damit – moralisch aufgeladen und politisch korrekt – seine Interessen durchzusetzen.“ Auf dieses Argument verweist beispielsweise der Professor für Betriebswirtschaftslehre Michael Weisensee in seiner 2012 erschienenen Schrift „Nachhaltigkeit ausländischer Direktinvestitionen in der Volksrepublik China“.
Wo es keine einheitlichen Kriterien gibt und wo pekuniäre Interessen im Vordergrund stehen, dort überrascht es nicht, wenn ein Begriff auch von den Akteuren missbraucht wird beziehungsweise in die Waagschale geworfen wird, um den eigenen Argumenten mehr Gewicht zu verleihen. Michael Weisensee kritisiert in diesem Zusammenhang die Unbestimmtheit konkreter Konsequenzen und eindeutiger Handlungsnotwendigkeiten. Auch hier wird deutlich, dass der Begriff einer nachhaltigen Entwicklung kontextabhängig genutzt wird und in unterschiedlichen Zusammenhängen eben auch verschiedenen Bewertungsskalen unterliegt.
Nachhaltige Entwicklung als utopische Hoffnung
Ein Blick in die vielfältigen Beiträge auf der Seite von „The bird’s new nest“ genügt, um festzustellen: Wenn es darum geht, sich mit Nachhaltigkeit zu beschäftigen, sind der Fantasie und der Fülle an Themen kaum Grenzen gesetzt. Hier stehen Texte über nachhaltiges Reisen, über Kosmetik, Kleidung und Ernährung, aber auch über Psychohygiene und Sinnfindung. Doch was die einen als Bereicherung empfinden, kann den anderen schon mal ein Dorn im Auge sein, zumindest wenn man sich das dritte kritische Argument anschaut, das der Brockhaus benennt: „Der Begriff der n. E. sei überladen. Wenn Nachhaltigkeit als Sammelbegriff für alles verwendet werden soll, was ‚edel, hilfreich und gut‘ sei, würde dies uneinlösbare Erwartungen wecken.“
In meinen Augen werden hier mehrere Ebenen gehörig durcheinander geworfen. Nehmen wir doch mal die folgende Definition von Nachhaltigkeit zur Hand: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass zukünftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Beim Weltgipfel 1992 in Rio de Janeiro haben die Regierungschefs diese Formulierung akzeptiert. Um was für Bedürfnisse es sich handelt, ist hier nicht festgelegt, ebenso wenig nehmen die Politiker hier eine Bewertung („edel, hilfreich und gut“) vor. Sicher, im Einzelnen kommen wir nicht darum herum, unsere Bedürfnisse und Ziele zu konkretisieren. Aber ganz nebenbei: Ein Begriff allein weckt keine Erwartungen.
Nachhaltige Entwicklung als schiere Illusion
„Angesichts der Ratlosigkeit, welche Akteure in einer demokratischen Gesellschaft eine ‚wirkliche‘ Politik der Nachhaltigkeit durchsetzen könnten, gelte der ‚Generalverdacht des Illusorischen‘“, schreibt der Brockhaus an vierter Stelle. Auch dies riecht stark nach dem Erwartungsargument (siehe oben). Armin Grunwald und Jürgen Kopfmüller gehen in ihrem Buch „Nachhaltigkeit“, das 2012 im Campus Verlag erschien, noch genauer darauf ein: „Nachhaltige Entwicklung diene der Beruhigung der Gesellschaft angesichts dramatischer Zukunftsprobleme. Sie suggeriere, dass, wenn man nur lange genug darüber rede, die Probleme schon irgendwie gelöst werden könnten. Nachhaltige Entwicklung habe daher den Charakter eines kollektiven Selbstbetrugs.“
Allerdings verweisen die Autoren angesichts solcher „Fundamentalkritik“ eher auf deren Funktion als Ansporn. Auch sie plädieren dafür, die Kritik zu nutzen, um das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung konkreter auszugestalten, anzupassen und zu optimieren.
Soviel zum Brockhaus. Und was denkst du darüber? Für wie sinnvoll hältst du den Begriff „Nachhaltigkeit“? Und wie kommen wir deiner Meinung nach von einer abstrakten Idee zu konkreten Handlungsstrategien, Bewertungen und Diagnosen?