Als meine Eltern Anfang diesen Jahres beide in der gleichen Woche an Covid verstorben sind, war das für mich einer der schlimmsten Momente in meinem Leben. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, den Tod der eigenen Eltern irgendwann zu erleben, sind die Art und Umstände wie dies passiert ist und dass beide fast gleichzeitig gestorben sind eine Erfahrung, die für mich nur schwer zu bewältigen war. Zum Glück hatte ich viel Unterstützung von meinem Partner und Freunden, nicht nur was die Verarbeitung des Schocks direkt nach ihrem Tod betrifft, sondern auch bei Dingen wie der Räumung der Wohnung meiner Eltern wurde ich tatkräftig unterstützt.

Trotz vieler helfender Hände hat es bis Ende Mai gedauert, bis die Wohnung gekündigt und zurückgegeben war. Der Wohnung ein letztes Mal Lebewohl zu sagen war nach Monaten des Aussortierens, Ausmistens und Aufräumens trotz aller Trauer eine Erleichterung. Eine Art Abschluss des Kapitels, eine Möglichkeit, wieder nach vorne zu blicken und langsam beginnen ein wenig Abstand zu gewinnen. Das Jahr hatte so schrecklich begonnen, deshalb konnte es jetzt ja nur noch bergauf gehen.

Um uns ein wenig von den letzten Monaten zu erholen, wollten mein Partner Daniel und ich uns nach der Wohnungsrückgabe und zur Feier meines Geburtstags eine Woche im Wohnwagon gönnen. Der Tod meiner Eltern, das Räumen der Wohnung und nicht zuletzt das gemeinsame Geschäft waren eine sehr stressige Mischung und eine Woche in einem autarken Tiny House – nur wir beide gemeinsam – war eine paradiesische Vorstellung.

Was dann passiert ist, damit hätte ich absolut nicht gerechnet. Nicht unbedingt, weil ein schreckliches Ereignis im Jahr doch genug sein sollte oder weil es doch nicht schon wieder meine allerliebsten Menschen treffen kann. Sondern weil ich noch dabei war, mich zu erholen – den Tod der eigenen Eltern zu verkraften dauert, auch wenn es mit der Zeit tatsächlich leichter wird und sich der Schmerz immer mehr mit schönen Erinnerungen abwechselt.

Stress dieser Art hinterlässt auch Spuren. Auf einmal werden ganze Büschel an Haaren grau, man kann in der Nacht nur schlecht einschlafen, auch mit dem Durchschlafen gibt es Probleme. Die Energiereserven sind begrenzt, man ist schneller am Ende seiner Kräfte, schneller gereizt, schneller in Tränen aufgelöst. Es wird alles schnell zu viel. Bei Daniel bemerke ich in dieser Zeit immer wieder eigenartige Aussetzer. Nur ganz kurz, fast könnte man sie übersehen, wenn wir nicht laufend Tag und Nacht zusammen verbringen würden.

Gefühlt bemerke ich die Aussetzer eher als er selber, oder er lässt es sich nicht anmerken. Ich bitte ihn, zum Arzt zu gehen, für mich sind diese Episoden erschreckend, vor allem weil sie meinem Empfinden nach zunehmen. Zuerst fällt mit nur einmal die Woche auf, dass er plötzlich innehält, mitten in einer Bewegung, mitten im Gespräch, so als würde die Zeit stillstehen. Und kurz darauf läuft die Zeit weiter, so als wäre nichts passiert. Aber bevor ein Arzt konsultiert werden kann, ist doch noch so viel zu tun. Die Wohnung, das Geschäft, der Urlaub… Und irgendwann treten diese Anfälle täglich auf. Und doch sind sie so subtil, dass sie außer mir niemandem auffallen. Vielleicht war auch das einer der Gründe, weswegen ein Arztbesuch nicht ganz oben auf der Prioritätenliste stand. Außerdem war bei Daniel die Hoffnung groß, dass der Urlaub das Stresslevel deutlich senken und diese Episoden von selbst wieder verschwinden würden. Denn ja, vielleicht war es wirklich nur der Stress?

Endlich im Wohnwagon angekommen wurde es aber nicht besser, sondern noch schlechter. Die Anfälle wurden deutlicher und kamen nun schon alle paar Stunden. Und mir wurde immer klarer, dass hier etwas definitiv nicht in Ordnung war. Und irgendwann war es dann für mich zu viel, Daniel machte immer mehr den Eindruck als würde er bei einer der nächsten Anfälle möglicherweise ohnmächtig werden und nach dem bisher größten Anfall, den ich mitbekommen hatte, habe ich die Rettung angerufen. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass es Daniel da schon so schlecht ging, dass er froh war, dass ich Hilfe geholt habe.

Nach einer kurzen Untersuchung durch die Rettungssanitäter wurde er sofort in den Rettungswagen gepackt und ins nächstgelegene größere Krankenhaus gebracht. In der Erwartung, dass er dort untersucht und dann noch am selben Tag entlassen werden würde, bin ich mit dem Auto zu einem Park in der Nähe des Spitals gefahren, auch um dort per Handy erreichbar zu sein – beim Wohnwagon gab es kaum Handyempfang, was auch das Rufen der Rettung ziemlich problematisch gemacht hat. Vom behandelten Arzt wurde ich dann auch angerufen und noch einmal zu seinen Symptomen und anderen Details befragt. Später dann habe ich von Daniel Bescheid bekommen, dass er gerade diverse Untersuchungen durchläuft. Und dass er an diesem Tag nicht mehr entlassen werden würde. Nach Urlaub war mir definitiv nicht mehr, also habe ich die Entscheidung getroffen, zurück zum Wohnwagon zu fahren, unsere Sachen zu packen und zu Hause auf weitere Informationen zu warten. Irgendwann in der Nacht bin ich dann relativ erschöpft angekommen.

Bei Daniel wurde in Folge der Untersuchungen ein sehr großes Gewächs in der rechten Hirnhälfte festgestellt. So groß, dass es nicht nur die Anfälle ausgelöst, sondern auch schon die Mittellinie des Hirns verschoben und dieses hat anschwellen lassen. Zu diesem Zeitpunkt war die einzige Lösung eine Operation, die möglichst bald durchgeführt werden sollte, aber da der Eingriff aufgrund der Umstände sehr komplex war, mussten die nächsten Tage entsprechende Untersuchungen durchgeführt werden, ohne die ein solcher Eingriff gar nicht möglich wäre. Mir ist bis heute nicht klar, wie kompliziert die Operation eigentlich war, ob die Schwellung des Hirns und die Größe des Tumors stark erschwerende Umstände waren oder ob die Möglichkeit, alle Untersuchungen vorher durchführen zu können den Eingriff doch etwas weniger riskant gemacht haben. Auf mich haben die Tage vor der Operation auf jeden Fall den Eindruck gemacht als wäre alles unter Kontrolle und die Operation selber zwar nicht simpel, aber trotzdem erfolgsversprechend.

Die OP sollte einige Stunden dauern und ich nachher von der behandelnden Ärztin über den Verlauf informiert werden. Als zum erwarteten Zeitpunkt kein Telefonanruf kam, wurde ich nervös, wollte aber natürlich auch nicht gleich nachtelefonieren. Eine halbe Stunde später habe ich es nicht mehr aufgehalten, angerufen und die Information bekommen, dass die Operation noch andauert. Mir war nicht klar, ob das nun ein schlechtes Zeichen sein sollte oder es nicht doch normal sein könnte, wenn eine OP ab und zu länger dauert?

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich noch warten musste, bevor ich von der Ärztin angerufen wurde. Bei der Operation hätte es Komplikationen gegeben. Daniels Gehirn war doch stärker angeschwollen als vermutet und es sei zu einer Gehirnblutung gekommen. Er hat viel Blut verloren und liegt nun auf der Intensivstation im induzierten Tiefschlaf. Im Koma. Ob er wieder aufwacht? Es sieht nicht gut aus. Möglicherweise wird er die Nacht nicht überleben.

Was eine solche Nachricht mit einem macht ist nicht nur schwer zu beschreiben, ich glaube nicht, dass irgendwelche Worte ausreichen um jemanden begreifbar zu machen, was in einem solchen Moment passiert. Genauso wie ein Mensch kein Schmerzgedächtnis hat, können vielleicht auch Empfindungen dieser Art nur in ganz extremen Situationen ausgelöst werden. Zu sagen bekommen, dass der eigene Lebenspartner mit dem man den Rest seines Lebens verbringen wollte möglicherweise in einigen Stunden nicht mehr leben wird war unbeschreiblich schrecklich. Was ich mit dem Wort „emotionaler Schmerz“ beschreiben würde war so unerträglich, dass ich immer wieder das Gefühl hatte, diesen Zustand keine Sekunde länger aushalten zu können.

Meine Erinnerung an die darauffolgenden Tage ist ein Durcheinander von Telefonaten mit dem Krankenhaus – Daniel hatte die Nacht wie durch ein Wunder überlebt, aber der Gehirndruck war viel zu hoch -, stundenlanges Liegen im Bett – ich hatte kaum Kraft irgendetwas zu tun, auch nicht zu Essen – und endlose Tränen. Dann Besuche auf der Intensivstation. Daniel mit komplett verbundenem Kopf und Körper, in einer schrägen Liegeposition, gefühlt hunderte Schläuche im und am Körper, Unmengen an Monitore, Maschinen, künstliche Beatmung. Wie geht es dir? Hast du Schmerzen? Erkennst du mich, weißt du, wer ich bin? Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr. Ich berühre dich ganz vorsichtig an der Hand, spürst du das? Ich bin’s, ich bin bei dir.

In der Nacht kann ich nicht schlafen, ich bin ständig darauf gefasst, einen Anruf mit einer schlechten Nachricht aus dem Krankenhaus zu bekommen. So wie vor einigen Monaten meine Eltern betreffend. „Ihr Vater… er hat es leider nicht geschafft.“ Und ein paar Tage später: „Ihre Mutter ist leider auch gestorben.“ Jeden Tag kommt im Laufe des Vormittags ein Anruf von der diensthabenden Ärztin oder dem diensthabenden Arzt um mich über Daniels Zustand zu informieren. Der leider nicht besser wird, der Hirndruck sinkt nicht und auch die Blutung wird vom Körper nicht abgebaut. Möglicherweise muss nochmals operiert werden, um das Blut aus dem Kopf direkt abzusaugen, man will sich den Verlauf die nächsten Tage ansehen.

Tags darauf werde ich darüber informiert dass sich Daniels Zustand über Nacht so verschlechtert hat, dass er notoperiert werden musste um das Blut sofort abzusaugen. Leider hatte die OP nicht den gewünschten Effekt, die Werte sind nun noch schlechter und als ich in der Intensivstation neben seinem Bett stehe zeigt mir eine Ärztin die aktuellen Bilder und meint, dass man sich aufs Schlimmste gefasst machen muss.

Vor sieben Jahren hatte meine Mutter eine Gehirnblutung. Wodurch diese damals ausgelöst wurde und warum sie so massiv war haben wir nie erfahren, aber auch sie ist einige Wochen in künstlichem Tiefschlaf gelegen. Damals war es nicht nur schrecklich das mit zu erleben, sondern auch zu sehen wie sehr mein Vater darunter gelitten hat. Aber zumindest habe ich damals schon Tipps bekommen, wie man mit jemandem, der im Koma liegt, am besten umgehen sollte. Und zwar dass man mit der Person sprechen kann und soll, sie mag zwar das Gesagte vielleicht nicht zu 100 Prozent mitbekommen, aber dass mit einem gesprochen wird hat definitiv einen Effekt. Ob nun ein direktes (einseitiges) Gespräch oder Erzählungen, leichte Berührungen und andere positive Sinneseindrücke wie Musik können helfen, den Patienten positiv zu beeinflussen.

Auch wenn man mir quasi gesagt hatte, dass ich mir keine Hoffnungen mehr machen sollte, konnte ich definitiv nicht aufgeben. Ich habe also meine letzten Kräfte zusammengekratzt und mich nach dieser Hiobsbotschaft an Daniels Bett gesetzt und mit ihm gesprochen. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn über alles liebe und ihn bitte zu mir zurückzukommen, wenn er das möchte. Ich habe ihm ganz deutlich gesagt: Du bist für mich das Wichtigste auf dieser Welt. Ich brauche dich. Bitte komm zu mir zurück!

 

Gerne hätte ich alles auf einmal niedergeschrieben, aber es ist fast Mitternacht, ich bin erschöpft und habe beim Schreiben auch die meiste Zeit geweint. Bevor es für mich zu viel wird, beende ich den Artikel hier, gehe ins Bett und schreibe ein anderes Mal weiter. Vielen Dank an alle, die schon bis hierhin gelesen haben!