„Es ist unvorstellbar, dass einer, der so aufwächst dann in Europa lebt, herumreist und jedes Jahr wieder hinfliegt.“, bringt meine Kollegin J. auf den Punkt, was wir uns alle denken. Ich sitze mit drei weiteren JournalistInnen in einem typisch bhutanischen Haus in einem Dorf in der Provinz Punakha, zirka drei Stunden von der Hauptstadt Thimphu entfernt. Drei Generationen leben im Haus, das ohne Nägel zusammen gehalten wird und in dessen Fenster es kein Glas, sondern Holzbretter zum Schutz gibt. Zu fünft teilen sie sich zwei Matratzen auf dem Boden; die Küche ist notdürftig mit einem Ofen in der Mitte eingerichtet; der Altar, den jede Familie besitzt, ist dafür umso prächtiger. Es ist das Elternhaus unseres Guides Chencho, der uns hierher eingeladen hat, und er ist es auch, von dem J. spricht.
„Du kommst aus Wien – ich liebe Wien!“, so hat mich der dunkelhäutige, pausbäckige Chencho vor einigen Tagen auf dem Flughafen in Paro in Bhutan begrüßt. Auf diese Standardaussage im Ausland folgt von mir meist eine Standardfrage: „Warst du schon einmal in Wien?“ „Ja, ich habe dort gewohnt!“ Ihr könnt euch meine Überraschung bei seiner Antwort vorstellen! Damit hatte ich an diesem anderen Ende der Welt jetzt wirklich nicht gerechnet. Ein Bhutaner, der schon einmal in Wien, in Österreich war? Wie sich später herausgestellt hat, hat Chencho ein Glück erfahren, von dem viele Jugendliche hier im Land des Donnerdrachens träumen: Als Tourguide ist er von einem reichen Wiener Paar eingeladen worden, einen Sprachkurs in Wien zu machen. Sie haben ihm die Reise finanziert, ihm eine Wohnung und Essen zu Verfügung gestellt und den Kurs bezahlt.
Monate, die ihn – wie könnte es anders sein – wohl ziemlich geprägt haben. Zuhause in Bhutan hat er eine Reiseagentur gegründet, reist einmal im Jahr nach Berlin zur ITB und arbeitet in unserem Fall mit Bhutan Tourismus zusammen, um uns JournalistInnen sein Land zu zeigen. Und jetzt öffnet er uns sein Elternhaus, in dem ab September acht Gästezimmer Platz haben sollen. „Die TouristInnen wollen genau das, das echte Bhutan erleben.“, weiß der Österreich- und Deutschland-Fan, der als einzige Agentur bereits einen solchen „Farmstay“ anbietet.
Recht hat er. Doch das „echte“ Bhutan besteht schon längst nicht mehr nur aus DorfbewohnerInnen jeglichen Alters, die zufrieden Betelnuss (= Doma) kauend auf dem Reisfeld ihre Arbeit verrichten, auf Decken und Matratzen schlafen, keinen Strom haben und stundenlange Gehwege in Kauf nehmen, um dann auf dem Wahlzettel ein Kreuz bei dem zu machen, der am ältesten und somit am weisesten wirkt. Es sind auch Leute in Thimphu wie der 33jährige Chencho, die schon im Ausland waren, mit Fernsehen, Computer und Internet aufgewachsen sind wie wir, Englisch sprechen, ohne neuestes Handy nicht leben können und sich an den Komfort einer warmen Dusche im Haus mehr gewöhnt haben als an das Zusammenleben und ständige Zusammensein mit der ganzen Familie.
Dörfer, Märkte an den Straßen, Reisfelder und Chili-Plantagen neben golden geschmückten Tempeln – und doch suchen wir TouristInnen wohl dieses ländliche Bhutan, das – zugegeben – den größten Teil des Landes einnimmt. In der Provinz Punakha ist es zu finden. Die Fahrt führt über den Dochula Pass, den ebenfalls jede/r TouristIn zu sehen bekommt, weil dort 2003 zu Ehren gefallener Soldaten 108 Stupas aufgestellt wurden. Auch deshalb, weil man bei klarem Himmel die Berge des Himalaya-Gebirges sehen kann. Die Freude über diesen sicher atemberaubenden Anblick war uns leider weder bei der Hin- noch bei der Rückfahrt vergönnt. Dafür haben wir bei Letzterer den ersten Schnee erlebt – ein Ereignis, das in Bhutan mit einem Feiertag zelebriert wird und ein Abenteuer für uns, rechtzeitig über den Pass zu kommen.
Im Frühjahr und Sommer dominieren grüne Reisterrassen das Bild der ländlichen Provinz – ein Bild, das wir uns im braunen Winter nur vorstellen konnten. Dennoch waren wir schon wegen der wärmeren Temperaturen glücklich: Es ist gleich ein anderes Gefühl, nur mit zwei statt vier Schichten an Kleidung unterwegs sein zu müssen. Eine Erleichterung im Vergleich zum frostigen, städtischen Thimphu, in dem wir die meiste Zeit unseres Trips verbracht haben.
Doch Punakha ist kein “Geheimtipp” mehr, sondern längst in jeder Tour inkludiert. Schuld daran ist vor allem der heilige Narr, ein Tibeter, der im 15. Jahrhundert nach Bhutan, eben in diese Region, gekommen ist, und mit seinem Penis (!) sämtliche Dämonen erschlagen und alle Frauen beglückt hat. Außerdem ist der Nationalsport Bogenschießen Drugpa Künleg zu verdanken genauso wie das Nationaltier Takin. Dieses hat der “Madman” selbst aus Knochen von Kuh und Ziege zusammengesetzt. Dass dieser Verrückte in Bhutan hoch verehrt wird und in den Tempeln seinen fixen Platz neben Buddha, Guru Rinpoche, Gründervater Shabdrung und dem König hat, macht das Volk für mich ziemlich sympathisch. Und ich bin keine Ausnahme: Natürlich hat Bhutan längst erkannt, wie verzückt TouristInnen sind, wenn sie die Geschichte dieses ungewöhnlichen Heiligen hören, einen Penis als Souvenir kaufen oder Fotos von den riesigen behaarten Gliedern an den Häuserwänden machen können. Letztere sollen übrigens böse Dämonen verscheuchen – wie einst der Penis des Heiligen – und vor Neidern schützen.
Auch wir sind zum Tempel des Heiligen “gepilgert”, der in einem Dorf in Punakha zu finden ist. Nicht, ohne zuvor die Souvenirläden namens “Phallus Handicrafts” abgeklappert zu haben – ohne fündig zu werden, wohlgemerkt. Besonders beeindruckt hat mich die Stätte zu der Frauen auch heutzutage noch reisen, um um Kindersegen zu bitten und als letzten Ausweg mit einem gesegneten Holzpenis in der Hand den Tempel umrunden müssen, nicht. Aber ich bin vermutlich die falsche Zielgruppe.
Da gefällt mir das Sitzen bei Chenchos Familie schon eher – auch wenn sich weder seine Mutter, noch seine 28jährige Schwester mit ihren zwei kleinen Kindern getraut haben, uns Gesellschaft zu leisten. Ich wäre dennoch gern länger dort geblieben, hätte liebend gerne dort übernachtet – in diesem Haus, 20 Minuten von der gleichnamigen Hauptstadt der Provinz Punakha entfernt. Ich bin sicher, durch den Alltag einer lokalen Familie hätte ich mehr über den Buddhismus erfahren als beim Besuch unzähliger Tempel und Dzongs. Und ich bin mir fast noch sicherer, dass wir bei selbst gebrauten Ara (= Reiswein, der mich an verfaulte Äpfel erinnert hat) und den – sehr viel besseren – selbst gemachten Reispops noch so einiges erfahren hätten… haben wir ja schon, beim Kurzbesuch in Chenchos Elternhaus.
Offenlegung: Ich bin von Bhutan Tourismus und Active Bhutan Tours zu einem FamTrip eingeladen. Die Kosten für den Aufenthalt vor Ort werden genauso wie 50 Prozent der Flugkosten von Bangkok nach Paro von den Veranstaltern getragen. Danke dafür! Den Flug von Wien nach Bangkok habe ich selbst bezahlt (danke, Emirates, für die Unterstützung), ebenso die Visum-Kosten von 40 USD. Meinungen und Ansichten bleiben wie immer meine eigenen.