Gehzeit: 4 Stunden 30 Minuten, Greàlou, Chambre d’hotes L’Átelier des volets bleus Esther Marcous

In Livinhac-le-Haut geht es wieder bergauf – natürlich -, aber nicht sehr lang. Der Himmel ist bedeckt, die Temperatur ist angenehm. Habe schlecht geschlafen und daher „Gummibeine“ und bin müde. Die richtige Stimmung für Selbstzweifel. Die vielen Menschen auf dem Weg und die Gespräche die sich immer nur um „Wie weit, wie schnell ist man heute gegangen“ drehen. Hetze, Tempo, Beruf, Leistung, Produktivität, Stress. All das ist mir vertraut und daher lasse ich mich leicht von diesem Muster anstecken. Meine Sehnsucht nach Veränderung dieses Musters und nach Ruhe ist groß. Ich versuche, den langbeinigen Schritten von Konrad zu folgen. Ich möchte kein „Bremser“ sein und doch gerne „meinen Weg“ finden. Stille, Ruhe, schauen, spüren, aufnehmen… Wie schwer das doch ist. Konrad schwärmt immer wieder vom Weg durch Frankreich, den er ganz alleine gegangen ist. Ich ziehe diese Möglichkeit ebenfalls ernsthaft in Erwägung. Diese Erfahrung sollte man sich sicher gönnen. Die pinkfarbenen Wicken am Weg erinnern mich an die „Marienbecher“ meiner Kindheit. Tränen bringen mir Erleichterung. Steine fallen vom Herzen, Einfach so. Nach zwei Stunden erreichen wir das sehr gepflegte Dorf Faycelle. Hier bekomme ich nach zweitägiger Abstinenz meinen geliebten Espresso und wir können für die Jause einkaufen. Diese nehmen wir bei einer typischen runden steinernen Schäferhütte, einer Cazelle, ein. Die Regenabdeckungen der Rucksäcke dienen als Hussen für die schäbigen Plastikstühle. Der Sportteil (nicht der Wirtschaftsteil!) der Zeitung dient als Tischtuch. (Ich lese, dass Naomi Campbell den Weltcuppokal in einem Louis Vuittons Koffer präsentiert.) Märchenhaft die Weide mit alten Bäumen. Der junge Deutsche aus Fulda überholt uns in Begleitung einer jungen Dame. Im verschlafenen Dorf Greàlou finden wir, nach langem Suchen, das Quartier, das uns auf diesen Weg, am meisten anspricht. Das Atelier einer Schweizer Künstlerin.

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Herzlich werden wir von Esther Marcous empfangen. Gemütlich und lange plaudern wir mit ihr bei einem oder auch zwei Glas Wein. Wir sind heute die einzigen Gäste. Mit viel, viel Liebe, Kreativität und Herz hat sie das alte Haus in eine Gite (Herberge) verwandelt.

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Das ist wie ein Wunder für mich an diesem herzenstrüben Tag. Esther sperrt für mich die gegenüberliegende Kirche auf und zeigt mir die wertvolle kleine Pieta. Maria blickt nicht verzweifelt sondern hat einen entspannten, friedvollen Gesichtsausdruck. Esther hat vor 22 Jahren ihr einjähriges Mädchen am 24. Dezember durch plötzlichen Kindstod verloren. Esthers Mutter ist vor zwei Jahren am Todestag ihrer Enkelin verstorben. Wie tröstlich das für sie ist. Esther hat einen zwanzigjährigen Sohn. Wir verabschieden uns abends freundschaftlich nachdem sie uns noch köstlich frischen Ziegenkäse für das Frühstück gebracht hat.