Gastbeitrag von Steven Hille von funkloch.me
Es war gegen 20 Uhr, als ich nach meiner Ankunft in Japan durch die Gassen Tokyos ging. Es war dunkel, und die Gegend um den Bahnhof Kuramae war ruhig und verlassen. Das sollte das hektische Tokyo sein, wenn sich zu dieser Zeit schon niemand mehr auf den Straßen befand? Es war eine ganz sonderbar ruhige Atmosphäre – fast schon gespenstisch!
Der lange Flug und die anschließende Zugfahrt hatten mich durstig gemacht. Zu meiner Rechten befand sich glücklicherweise ein kleiner, sehr unscheinbarer Supermarkt. Ich ging hinein und grüßte. Die Verkäuferin grinste über das ganze Gesicht, sah mich an, verbeugte sich und sagte etwas, das sicher „Guten Abend!“ bedeutete. Eine eisige trockene Kälte kroch durch die Gänge. An diese Klimaanlagen werde ich mich wohl nie gewöhnen, dachte ich.
Ich griff eine Flasche Wasser, die 95 Yen kostete und ging direkt zur Kasse. Erst jetzt bemerkte ich das junge Alter der Verkäuferin. Ich stellte das Wasser auf den Tresen und sah ihr zu, wie sie sich schon wieder vor mir verbeugte und dabei lautstark schmunzelte. Es war mir unangenehm. Ihr vielleicht auch. Wir waren im gleichen Alter und beide Kinder von Großstädten. Es gab keine Rangfolge zwischen uns – wir waren gleich. Ganz egal, dass einer einkaufte und der andere verkaufte. Keiner war dem anderen würdiger. Und trotzdem tat sie es. Immer und immer wieder. Ihr Schmunzeln deutete mir, dass es einfach eine Tradition, eine nette Geste, eine Angewohnheit – nein, die Verkörperung von „Na, wie geht es dir?“, während man schon den Nächsten begrüßte – war.
Doch was dann passierte war keinesfalls einstudiert und kein Relikt uralter Traditionen. Sie gab mir mein Wechselgeld, indem sie beide Arme ausstreckte und ihre Hände formte, als hätte sie etwas dort drin, das sie behüten wollte. Ganz so, als ob man ein wenige Stunden altes Küken vor den Einflüssen der riesigen Welt schützte. In ihren Händen lagen 5 Yen. Sie nahm meine rechte Hand, drehte sie um, so dass meine Handinnenfläche nach oben zeigte. Dann legte sie die Münze in meine Hand und legte die Ihre oben drauf. Ich war verdutzt und gerührt zugleich. Anschließend sagte sie, dass diese Münze eine gute Bedeutung in der japanischen Kultur hat. Solange ich gut auf sie aufpassen würde, sollte ich Glück und gute Beziehungen zu den Menschen haben.
Ich nahm die 5 Yen an mich, die ab diesem Moment irre viel für mich bedeuteten und legte sie behutsam in ein kleines Reißverschlussfach meines Rucksacks. Am folgenden Tag kaufte ich vor einem Tempel ein Band. Seit diesem Tag trage ich die Münze immer bei mir.