Die Schlange starrte auf das Kaninchen. Das Kaninchen starrte auf die Schlange, und dann sagte das Kaninchen:
„Buh!“
Die Schlange zuckte kurz zusammen und musste dann lachen. Wie albern dieses Kaninchen doch sei. Beim Auflachen schloss die Schlange kurz die Augen, und als sie die Augen wieder aufmachte, war das Kaninchen weg.
Was ist es, dieser Mut?
Wie konnte das Kaninchen seine Todesangst und Angstlähmung überwinden? Wo entsteht der Mut? Wie kann jeder von uns Zugang zu dieser Ressource erhalten?
Warum brauchen wir Mut, um unsere Ängste zu überwinden? Und können wir absolut angstfrei werden?
Die sechs Gespenster der Angst
Wenn hier von „Angst“ die Rede ist, sind die normalen menschlichen Ängste gemeint, nicht die verschiedensten Angststörungen und extremen Angstzustände. Viele Wissenschaftler haben sich bereits mit dem Begriff und dem Konstrukt „Angst“ auseinander gesetzt. Ein sehr einflussreicher Denker und Buchautor – Napoleon Hill – hat in seinem Buch „Denke nach und werde reich“ die sechs Gespenster der Angst beschrieben, und auch wenn sein Buch sich primär dem Unternehmertum widmet, so sind doch diese sechs Gespenster allgegenwärtig in jeder Stadt dieser Welt. Sie lauten:
- Angst vor Armut
- Angst vor Kritik
- Angst vor Krankheit
- Angst vor Liebesverlust
- Angst vor dem Alter und
- Angst vor dem Sterben
Diese sechs Ängste, so Hill, bestimmen unser Leben. Einen Großteil unseres Tages verbringen wir damit, alles zu tun, um nicht zu sterben. Wir verdienen Geld, um ein Dach über dem Kopf zu haben, um einen Kühlschrank und das Essen im Kühlschrank bezahlen zu können. Auch die Angst vor Armut und Krankheit spielen hier mit hinein, besonders wenn wir uns um den beruflichen Erfolg und unsere Gesundheit kümmern.
Je nach Ausprägung definiert die Angst vor Liebesverlust unser Privatleben. Wenn wir einmal in einer Beziehung sind, wollen wir diese erhalten. Mit Liebesentzug strafen manche Eltern ihre Kinder, eine so wirksame wie brutale Erziehungsmethode. Doch Angst vor Liebesverlust steuert unser Verhalten nicht nur im familiären Kreis. Auch im Arbeitskontext wollen wir von unseren Kollegen und Vorgesetzten gemocht und respektiert werden, also werden wir manchmal zu Ja-Sagern und manchmal machen wir Überstunden. Manchmal zu viele Überstunden. Doch wenn wir dafür Respekt und Anerkennung ernten können und auch noch unserer Angst vor Kritik entfliehen, dann machen wir lieber eine Überstunde mehr.
Die Angst vor Kritik ist zwar nicht typisch deutsch, doch in Kombination mit dem typisch süddeutschen Spruch „Nicht geschimpft ist gelobt genug“ prägt diese ein Stück weit das zögerliche Verhalten, welches im angelsächsischen Sprachraum mit „German Angst“ bezeichnet wird. Lieber zurückhaltend abwarten, statt sich aus dem Fenster lehnen und dafür Kritik kassieren.
Chris Guillebeau, ein anderer Autor und Unternehmer, beschreibt in seinem Manifest „Eine kurze Anleitung zur Weltherrschaft“ die Wege, ein unauffälliges Leben zu leben und garantiert keine Kritik zu kassieren:
- Alles für bare Münze nehmen, was andere Leute einem erzählen
- Autoritäten nicht hinterfragen
- Studieren, weil es erwartet wird und nicht, weil man etwas lernen will
- Nicht in fremde Länder reisen, weil da alles anders ist
- Überlegen, ein eigenes Unternehmen zu gründen, aber es niemals tun
- Überlegen, ein Buch zu schreiben, aber es niemals machen
- Die höchstmögliche Hypothek in Anspruch nehmen und sie dann 30 Jahre abbezahlen
- 40 Stunden pro Woche am Schreibtisch sitzen und durchschnittlich zehn davon produktiv arbeiten
- Niemals herausragen und Aufmerksamkeit auf sich lenken
Chris sagt, wer sein Leben nach diesen Prinzipien gestaltet, ist selten allein und entspricht den gängigen Erwartungen. Was bedeutet, solche Menschen brauchen keine Angst vor Kritik zu haben.
Und dann bleibt da noch die Angst vor dem Alter. Zu dieser kommen wir gleich.
Von Angst zum Mut
Eine Angst entsteht, wenn in unserem Leben ein Entwicklungsschritt bevor steht. Ob Jobwechsel, Umzug, Veränderungen in den sozialen und familiären Beziehungen oder auch das Erreichen einer neuen Reifestufe im Leben – größere Veränderungen im Leben bringen uns sowohl Freude, als auch Angst. Was, wenn es nicht klappt? Was, wenn es doch schlechter wird als vorher?
Der Mut entsteht – wie die Angst – im Kopf, in unserem Denken. Wir schätzen unsere Fähigkeiten ein (haben wir genug?) und prüfen unsere bisherigen Erfahrungen (haben wir schon welche?). Dabei bedient sich der Kopf gern auch der Parallelen aus dem Leben anderer Menschen („Wenn der oder die es geschafft hat, kann ich das auch.“), denn lernen tun wir meistens immer noch von Modellen.
Doch der Kopf alleine kann nicht entscheiden, mutig zu sein. Der Wille, der dafür notwendig ist, lebt in unserem Körper, meistens im Bauch, und dieser Wille ist ein wenig mit der Wut verwandt. Mit der Wut, die wir kriegen, wenn wir es nicht schaffen.
Was es dann noch braucht, ist der erste Schritt. Dieser klappt nicht immer. So wie die Amelie in dem Film „Die fabelhafte Welt der Amelie“ sich einige Male mit dem jungen Mann verabredete, und sich erst nach ein paar geplatzten Dates getraut hat, ihm wirklich zu begegnen.
Der Angst vor dem Alter kann man aus meiner Sicht am besten mit Mut begegnen. Mit dem Mut zu tun, wozu man sich berufen fühlt. Mit dem Ausleben der Antworten auf die zwei Fragen von Chris Guillebeau:
- Was willst du wirklich im Leben?
- Was kannst du der Welt bieten, was niemand anderes sonst kann?
Klar kann man sich mit Faltencremes und finanzieller Absicherung beschäftigen, das ist jedoch aus meiner Sicht nur eine Beschwichtigung. Wer sich von seinem Leben versteckt, bekommt irgendwann die Quittung, und diese kann dann so aussehen, wie die Reue, über die eine australische Krankenschwester in ihrem Bestseller-Buch „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ schreibt. Auf Platz eins steht:
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben.“
Noch Fragen?
Das mutige Kaninchen
Woher nahm das Kaninchen den Mut, der Schlange ein „Buh!“ zuzurufen? Woher nehmen viele tausende Menschen täglich den Mut, etwas zu tun, was ihr Leben und das Leben anderer Menschen verbessert?
Zum einen kann man die Angst mit Angst besiegen. Angst davor, als einzige in der Klasse die Prüfung nicht zu bestehen, half mir irgendwann, die Angst vor der Prüfung zu vergessen. Die Angst davor, die Anerkennung seiner Kollegen zu verlieren, lässt sich vergessen, wenn man die Angst wahrnimmt, den Rest seines Lebens nur von von einem „Endlich Freitag!“ bis zum nächsten zu vegetieren.
Das Konstrukt von Mut und Angst ist so zusammen gestellt, dass jeder Mensch genau so viel Mut hat, wie er Angst hat. Doch während Angst ein uralter Mechanismus ist, der uns seit jeher vor dem Tod bewahrt, muss der Mut durch uns selbst entdeckt und aktiviert werden, und das macht es manchen von uns schwer, den Mut in sich zu spüren.
Und dann ist da noch etwas. Die bisherigen wissenschaftlichen Bemühungen fokussierten sich meist darauf, wie man die Missstände eliminiert. In unserem Fall heute würde man sich also primär darauf fokussieren, wie man die Angst besiegen kann. Die neueren Zweige der Wissenschaft – in der Medizin ist es die Salutogenese, und in der Psychologie die Positive Psychologie – fokussieren sich auf das Erlangen des Bestmöglichen. Statt Krankheiten und Probleme zu untersuchen und dafür Bewältigungsstrategien zu entwickeln, werden Idealzustände beschrieben und Wege, diese Zustände anzusteuern. (Mehr darüber, was Salutogenese ist, findest du in meinem Artikel „Seele 2.0 im Körper 2.0“.) Man spricht von „Stärken stärken statt Schwächen schwächen“. Und wenn wir wissen, dass Angst und Mut zusammen gehören, dann würden wir uns in diesem Fall immer weniger mit der Angst und der Angstbewältigung beschäftigen, sondern mit der Beschreibung der Lebenssituationen, die wir erreichen wollen und mit dem Entdecken der Ressourcen, die wir dafür brauchen. Unter anderem, mit dem Entdecken der mutigen Seiten in uns.
Gehört den Mutigen die Welt?
Mut ist eine der sechs Tugenden, welche in 3.000 Jahren Menschengeschichte in fast allen Religionen und Kulturen zu den wichtigsten gehören, neben Liebe, Gerechtigkeit, Spiritualität, Mäßigung und Weisheit. Man sagt, den Mutigen gehöre die Welt. Weil diese Menschen sich trauen, zu handeln. Wer mutig ist, schließt das Risiko des Scheiterns mit ein und die Möglichkeit, einen Fehler zu machen. In Russland gibt es einen Spruch: „Wer nicht riskiert, der trinkt auch keinen Champagner“, und dieser malt ein klares Bild von Siegern und Verlierern.
Doch ist es so? Reicht es aus, furchtlos voranzuschreiten, damit man zum Sieger wird?
Was, wenn man zu viel Mut hat – also „übermütig“ durch die Gegend läuft, keine Grenzen kennt und Warnsignale nicht beachtet? Bergsteiger wissen, dass angstfreies Verhalten zum Tod führen kann.
Mut und Angst sind zwei Systeme, die sich bestens vervollständigen. Mut ist das Gaspedal, Angst ist die Bremse. Mut gewährleistet die Handlungsfähigkeit, Angst warnt vor Verantwortungslosigkeit.
Wenn die beiden Systeme ausbalanciert sind, fährt jeder von uns in seinem eigenen Stil über die Straße des Lebens. Man spricht in diesem Fall dann vom „Spannungsgefüge verantwortbaren Wagemuts“, und was so wissenschaftlich hochgestochen klingt, ist in Realität etwas, was man viel einfacher mit „cool“, „lässig“ und „gelassen“ beschreibt.
Und den Gelassenen gehört die Welt von morgen.