„Diebenga isch ja so schee!“ – ein Satz, den ich während meines Studiums immer wieder von Nicht-Tübingern gehört habe. Lange Zeit habe ich mich gefragt, was an Tübingen eigentlich so schön sein soll, denn ich verband mit der Stadt immer hartes Studium, Einbahnstraßen und besetzte Hippiehäuser. In den Semesterferien wehten die Steppenhexen durch die Innenstadt, weil alle Studenten zu ihren Eltern gefahren waren. Ich, deren Eltern ab dem zweiten Semester im Ausland lebten, war gefühlt der einzige Mensch. Der Mensch, dessen Schritte einsam durch die kopfsteingepflasterte Altstadt hallten. Tübingen – von meinen Freunden und mir liebevoll Trübingen genannt – dieses grauenvoll langweilige Tor zur Albhölle. Wir fragten uns, warum wir nicht hip sein konnten und bereuten, dass wir uns aufgrund unserer postabiturialen Abnabelungsproblematik nicht vernünftigerweise in Berlin, Hamburg, München oder einer anderen coolen Stadt beworben hatten. Stattdessen wollten wir lieber in erreichbarer Nähe des Elternhauses bleiben und saßen somit in diesem schwäbischen Kehrwochenprovinzkaff fest, in dem man resignierend dankbar klatschte, weil irgendwann ein H&M eröffnete. Wir saßen in dieser Stadt, die durch ausländische Studenten, die in riesigen steinernen Vagina-Skulpturen hängen bleiben, in die internationalen Medien gelangt war.

Neckarfront. Foto: Werner Arnold

Nachdem ich mit dem Studium endlich fertig und somit aus Tübingen weggezogen war, fing ich aus unerklärlichen Gründen plötzlich an, diese Stadt zu vermissen. Ich vermisste es, im Sommer auf der Neckarmauer zu sitzen und ein Eis der besten Eisdiele Tübingens zu essen. Nachts im Stocherkahn – und Stocherkähne gibt es nur in Tübingen – zu liegen, dabei die Sterne zu beobachten, den leisen Wellen des Neckars zu lauschen und einfach mit Freunden durch die Nacht zu quatschen. Mir fehlte, schnell und sicher mit dem Fahrrad zu Kommilitonen zu fahren. Völlig problemlos. Na ja gut, völlig ist übertrieben – immerhin hat Tübingen auch durch seine Hügel einen gewissen Bekanntheitsgrad auf Youtube erlangt (Stichwort: Tübingen, warum bist du so hügelig). Vielleicht lag es auch daran, dass ich durch einen Zufall nun wirklich auf der Alb gelandet war, sprich: das Tor zur „Albhölle“ hatte ich durchschritten. Trotzdem begann ich langsam zu verstehen, was an Tübingen „so schee“ ist und warum man auf der Alb meinte, ich käme aus der „Ökostadt“…

Die Neckarmauer

Tübingen liegt 35 Kilometer südlich von Stuttgart und hat rund 85.000 Einwohner, deren Altersdurchschnitt mit 39 Jahren der niedrigste in ganz Deutschland ist. An der Uni Tübingen gibt es fast 30.000 Studenten aller Fachrichtungen, die sich im Sommer in den Cafés der Stadt tummeln. Zwar befand sich Tübingen im Jahr 2013 auf Rang 6 der teuersten Städte Deutschlands, was die Mietpreise betrifft. Die Stadt hat aber dennoch einiges vorzuweisen, was sie für junge Menschen attraktiv macht. Hierzu gehört beispielsweise die gute Infrastruktur der öffentlichen Verkehrsmittel, was unter anderem der Arbeit des Oberbürgermeisters Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen), der dazu steht, ein „Öko-Spießer“ zu sein, zu verdanken ist. Da dieser aber nur der OB Tübingens und nicht derjenige der angrenzenden Städte ist, hört die gute Infrastruktur leider mit dem Ortsschild auf. Will man aus Tübingen raus, braucht man Zeit und gute Nerven. Ich spreche aus Erfahrung, ich bin immerhin drei Jahre gependelt. Aber das empfindet natürlich jeder anders.

Autos kommen nicht weit

Das Französische Viertel wurde vom Spiegel unlängst als grüne Hölle bezeichnet. Ja genau, das Französische Viertel, wo gutsituierte Erstlings-Mütter zu ihrem handgewalkten Dinkelschrot-Brötchen Soja-Latte trinken, während ihre Kinder gut betreut untergebracht sind. Familienfreundlichkeit schreibt man in Tübingen groß. Immerhin hat die Stadt die höchste Betreuungsquote für Kleinkinder in Baden-Württemberg vorzuweisen. Die an moderne Wohnhäuser angrenzenden kontrastiven Wagenburgen prägen das Bild des Französischen Viertels. Studenten wohnen hier wenige. Die finden sich eher im Stadtteil Waldhäuser-Ost, kurz: WHO. Schön ist es dort allerdings nicht, außer wenn man die trist-grauen Hochhäuser nicht von außen betrachtet, sondern hineingeht und von dort die Aussicht über Tübingen genießt. In Anbetracht der Mietpreise sind diese Wohnblöcke allerdings für viele die einzige Möglichkeit, in Tübingen zu wohnen. Wer zum WHO mit dem Fahrrad fährt, ist natürlich schon ein fortgeschrittener Tübinger. Normale Menschen nehmen hier den Bus. Das Semesterticket ist ebenfalls bezahlbar, auch wenn es jedes Jahr teurer wird (2005: 35,10 Euro, 2015: 78,90 Euro). Dennoch, diese 13 Euro im Monat kann man verschmerzen.

Innenstadt. Foto: Werner Arnold

Als Autofahrer kommt man in Tübingen ohnehin nicht weit. Als Fahrradfahrer hat man es umso leichter. Beim Fahrradklima-Test 2014 des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) landet Tübingen in der Gruppe von Städten zwischen 50.000 und 100.000 Einwohnern landesweit auf dem ersten Platz der fahrradfreundlichsten Städte. Bundesweit steht die Stadt auf Rang sechs von 100 Städten ähnlicher Größe. Und so habe sogar ich, als beispiellose Repräsentantin der schwäbischen Liebe zum Automobil, mir in Tübingen ein Fahrrad zugelegt. Und dann nochmal eines. Und nochmal eines. Denn hier kommen Fahrräder leider auch mal abhanden. Meine wurden beide aus einer verschlossenen Tiefgarage gestohlen. Aber in Tübingen ist man da nicht so. Man gibt ja gerne! Das zeigt sich auch darin, dass man in Tübingen jederzeit kistenweise Sachen auf die Straße stellen kann. Versehen mit einem „Zu verschenken“ Zettel findet hier wirklich alles schnell neue Besitzer. Modernes Recycling. Verschenken statt wegwerfen. In keiner anderen Stadt habe ich das in so ausgeprägter Form erlebt.

Veni, vidi, vegi – ich kam, sah und… aß vegetarisch!

Aber zurück zum Fahrrad, mit dem ich locker in die Innenstadt komme, wo ich mich mit Freunden zum Kaffeetrinken treffen kann. Soja-Cappuccino versteht sich, denn in Tübingen haben Vegetarier und Veganer ein leichtes Leben. Mehrere Bioläden verteilen sich über die Stadt und auch vegane Cafés gibt es, wie beispielsweise das Vegi in der Kornhausstraße. Den besten veganen Hotdog bekommt man übrigens bis spät in die Nacht im Rock and Dog in der Mühlstraße. Daneben befindet sich der Imbiss Kasvis, welcher ausschließlich vegane Leckereien verkauft.

Rock and Dog, Mühlstraße. Foto: Patrick Rädler

Rock and Dog, Mühlstraße. Foto: Patrick Rädler

Das Tübinger Nachtleben bietet vor allem gemütliche Kneipen und Bars. Und unter uns: wer seine gekleiderkreiselten Prada-High-Heels präsentieren möchte, findet sicher im Top 10 in der Südstadt ein paar Claqueure.

Auch in Tübingen ist nicht alles im grünen Bereich: Die Affenversuche

2014 erlangte die Stadt durch einen Bericht bei Stern TV traurige Berühmtheit. Es war die Rede von barbarischen Versuchen an Rhesusaffen, die an drei Tübinger Instituten stattfinden. Untermauert wurde dieser Vorwurf durch Videoaufnahmen, die heimlich gedreht worden waren. Tübingen ist eine der letzten vier deutschen Städte, in denen diese Versuche noch durchgeführt werden. In allen anderen Städten wurden sie abgeschafft und von den Behörden wegen ihrer Grausamkeit verboten. Gerade eine Stadt, in der so viele Querulanten und Freidenker unterwegs sind, spürt die Konsequenzen. Einige Wochen nach der TV-Ausstrahlung zog ein großer Demonstrationszug mit 1.200 Teilnehmern durch die Stadt. Die Staatsanwaltschaft Tübingen hat hiernach das Max-Planck-Institut durchsuchen lassen. Der Verdacht: Verstöße gegen das Tierschutzgesetz. Wie die Sache ausgeht, ist ungewiss.

Tübingen erlebt sein blaues Wunder

Nichtsdestotrotz bleibt Tübingen in vielen Köpfen eine Ökostadt. „Tübingen macht blau“ lautet das Motto einer Klimaschutzkampagne, die 2008 von Boris Palmer ins Leben gerufen wurde. 10 % weniger CO2 bis 2010 war das Ziel und alle Bürgerinnen und Bürger sollten dabei helfen. Das Resultat sind 18 % weniger CO2 pro Kopf im Jahr 2013 gegenüber 2006, 10.000 Ökostrom-Kunden der Stadtwerke Tübingen, immer mehr Menschen, die Carsharing betreiben und vieles mehr. Das neue Ziel sind weitere 25 % bis 2022.

Die bunte Mischung

Ich für meinen Teil finde Tübingen keinesfalls grün. Für mich ist Tübingen bunt. Ob Hippies, Snobs, Punks, Hipster, Akademiker, Nerds oder Dinkelschrotmütter, in keiner anderen Stadt sind mir so unterschiedliche Menschen begegnet, die trotzdem ein Miteinander geschaffen haben, in dem sich jeder wohl fühlt. Und welcher andere Oberbürgermeister führt seinen Wahlkampf schon vor Ort beim Wähler in einer Studenten-WG?

Neckarfront

Ich freue mich jedenfalls auf den Sommer und auf ein Eis, das ich dann auf der Neckarmauer sitzend genießen kann, während zu meinen Füßen die Stocherkähne über das Wasser fahren. Im Winter komme ich dann nochmal, zur chocolART – Deutschlands größtem Schokoladenfestival. Natürlich nur, wenn die Witterung zulässt, dass es die Postkutsche von der Alb nach Tübingen schafft. Die darf ja auch in die Umweltzonen.