„Blumen sind das Lächeln der Erde“ sagte einst Ralph Waldo Emerson, ein amerikanischer Philosoph und Schriftsteller. 1837 verkündete er in seinem Buch „Nature“, dass in der Natur die wahre Quelle der göttlichen Offenbarung liege. Beinahe 200 Jahre sind seitdem vergangen, schon lange nimmt die Natur nicht mehr diesen Stellenwert ein. Sie wird als etwas Selbstverständliches angesehen, von vielen gar nicht beachtet, ja sogar als Übel betrachtet. Wälder nehmen zu viel Platz ein, Unkraut muss aus dem Garten verbannt werden, für wilde Blumenwiesen haben wir keinen Bedarf. Dass wir uns damit selbst um unseren größten Reichtum bringen, spielt keine Rolle. Wir müssen uns ausbreiten, Häuser und Fabriken bauen und ein noch feineres Netz aus Straßen und Wegen um die ganze Welt spannen. Wir leben grau in grau, mit wenigen Farbklecksen dazwischen. Ich frage mich, ob dieses Mehr an „Zivilisation“ und Weniger an Natur uns auf Dauer glücklich machen kann.

Mehr als die Hälfte des Wiener Stadtgebiets besteht aus Grünflächen. Zwischen riesigen Wohnkomplexen finden sich Parks, hinter verschlossenen Türen verstecken sich wunderbare Gärten in ruhigen Innenhöfen. Es gibt Naturschutzgebiete, wilde Wiesen und akribisch genau angelegte Blumenbeete und englische Rasen. Wien ist durchzogen von grünen Adern, mehr angeblich als viele andere Großstädte. Und obwohl ich diese Stadt liebe und mein Leben hier genieße, spüre ich manchmal die Sehnsucht nach mehr Natur.

Hinter meinem Elternhaus beginnt ein Wald. Er zieht sich fast bis zum Gipfel des Berges, an dessen Fuß der Ort liegt, an dem ich zum Teil aufgewachsen bin. Wenn man die ersten Schritte in diesen Wald macht, blitzt noch die Sonne zwischen den Wipfeln durch. Das wenige Licht tanzt in grünen Sprenkeln die Bäume entlang. Je tiefer man in den Wald gelangt, desto dunkler wird er. Die Bäume werden dichter, der Boden ist moosig und von einer Vielzahl von Pflanzen bewachsen. Die Luft ist rein und klar, es gibt keinen Lärm. Die einzigen Geräusche, die einen begleiten, sind das Gezwitscher der vielen Vögel, die hier ihre Runden ziehen und das stete Rascheln im Unterholz. Der Wald pulsiert vor Leben und strahlt dabei so viel Ruhe aus, dass man nicht anders kann als seine eigene Atmung dem Rhythmus des Waldes anzupassen. Mitten in diesem Wald gibt es eine Lichtung, auf der ein Felsen liegt, von dem man das ganze Tal überblicken kann. Ein Ort, so voller Kraft und Inspiration. Besonders an stressigen Tagen sehne ich mich nach dieser Quelle der Entspannung. Mir fehlt der satte Duft des Waldes, das farbenfrohe Leuchten der Blumenwiesen rundherum. Die Leichtigkeit, die spürbar wird, wenn man in einer Wiese liegt und Schmetterlingen beim Spielen zusieht. Die sanfte Freude, die einkehrt, wenn man abends von Grillen in den Schlaf gesungen wird und der nächste Tag mit dem Jubilieren der Frühaufsteher unter den Vögeln beginnt. Mir fehlt der Geruch nach Regen und die Reinheit der Luft, wenn das Gewitter vorbei ist. Das Gefühl, von Leben umgeben zu sein und es wachsen und gedeihen zu sehen. Ich vermisse es, am Boden zu liegen und den winzigen Insekten zuzusehen, wie sie ihre Leben meistern. Diese Faszination, die Zeit irrelevant macht. Am allermeisten aber fehlt mir das Gefühl von Gras unter den Füßen. Denn seien wir uns ehrlich, es gibt nichts besseres als barfuß über eine Wiese zu laufen, ins hohe Gras zu fallen und mit geschlossenen Augen in einem Meer aus Blumen von der Zukunft zu träumen.

All diese Dinge fehlen mir hier in Wien. Wenn ich aber durch die Stadt spaziere und sehe, dass sich auch aus den feinsten Rissen im Asphalt Blumen hervorkämpfen und es an jeder Ecke kleine Flecken gibt, an denen die Natur sich nicht unterkriegen lässt, dann weiß ich, dass die Erde auch hier lächelt. Und wenn man aufmerksam und behutsam durch die Straßen wandert und die Augen offen hält, dann sieht man, dass die Erde hier nicht nur lächelt, sondern aus vollem Hals lacht. An manchen Orten mit vorgehaltener Hand vielleicht, aber nicht weniger herzlich als anderswo. So lebe ich also hier in der Stadt und erfreue mich an Gänseblümchen zwischen Pflastersteinen ebenso wie an der überwältigenden Macht der Natur zu Hause. Ein Glück, dass beides möglich ist!