Das Taxi hält vor einem großen, in gelb-grün-weiß bemalten Metalltor, das die Sicht auf einen Waldpfad freigibt. „Himachal Vipassana Centre Dhamma Sikhara“ ist über dem Eingang zu lesen. Mein Magen wird flau, meine Knie zittrig, ich kann es noch gar nicht realisieren: Einmal ausgestiegen und durchgeschritten bin ich für die nächsten zehn Tage drin. Dann gibt es kein Zurück. Dann sitze ich fest, buchstäblich: Zehn Stunden Tag für Tag werde ich sitzen und die Meditationstechnik Vipassana praktizieren. Und zwar nur Vipassana.

Schweigend, ohne mit den Mitmeditierenden zu sprechen, ohne ein Buch zu lesen, ohne Musik zu hören, ohne zu telefonieren und auch ohne Notizen zu machen, denn Handys, Laptop, Stifte, Blöcke… kurz, jede Ablenkung wird am Eingang abgegeben.

„Beware of monkeys.“, dieses Schild ist eines der ersten Dinge, die ich nach der Einschreibprozedur auf der Suche nach meinem Schlafplatz für die nächsten elf Tage im Zentrum sehe. Dass es hier oben in der Himalayaregion in einem der angeblich „schönsten Vipassana-Zentren“ Indiens von Affen nur so wimmelt, das hatte ich bis jetzt offenbar erfolgreich verdrängt. Daraus wird jetzt aber nichts mehr: „Schaut den Affen nicht in die Augen,“, nimmt die Warnung vor den angeblich über 50 Klettertieren im Wald bei der Einführung abends fast mehr Platz ein als die Erklärung der Hausordnung für die nächsten zehn Tage, „zeigt keine Zähne, belästigt sie nicht, dann werden sie euch auch in Ruhe lassen.“

Achtung, Affengefahr! Foto: Doris

Achtung, Affengefahr!

Na, wirklich beruhigend klingt das nicht. Als dann noch die Portugiesin Melissa, die schon im letzten Jahr hier ihren ersten Vipassana-Kurs besuchte und somit so wie ich „old student“ ist, davon erzählt, dass damals eine Teilnehmerin von einem Affen am Bein gepackt wurde, ist es mit meiner Ruhe völlig vorbei. Irgendwie habe ich mir einen sicheren, geschützten Rahmen für die anstrengenden, nächsten Tage anders vorgestellt…

Monkey, monkeys, nichts als monkeys... Foto: Doris

Monkey, monkeys, nichts als monkeys…

„Euch steht eine tiefschürfende Operation bevor.“, erklärt uns S.N. Goenka am Abend in einer der ab sofort täglich stattfindenden Videobotschaften, die zum Abschluss des Tages gezeigt werden. Mit einem Buddha-Lächeln sitzt er uns auf der Leinwand gegenüber, der gebürtige Burmese, der Vipassana in Indien und der ganzen Welt bekannt gemacht hat. Mit sonorer Stimme, schier durch den Bildschirm auf uns zukriechender Wärme und unwiderstehlicher Geduld bringt er uns die Technik näher, durch die Buddha und andere Praktizierende nach ihm zur Erleuchtung gefunden hat.

Zehn Stunden sitzen wir zehn Tage lang hier in der Dhamma-Halle. Foto: Doris

Zehn Stunden sitzen wir zehn Tage lang hier in der Dhamma-Halle.

Die Erleuchtung, hach, die ist auch das „final goal“ von uns rund vierzig Frauen und zwanzig Männern aller Nationalitäten sowie sämtlicher Alters- und sozialer Stufen, die sich hier in strikter Geschlechtertrennung versammelt haben. Aber zuerst einmal steht das Ziel im Vordergrund, die nächsten zehn Tage durchzuhalten. Und das Ziel ist schon groß genug…

Männer- und Frauenbereiche sind streng getrennt - hier ein Blick "hinüber" zu den Männern. Foto: Doris

Männer- und Frauenbereiche sind streng getrennt – hier ein Blick „hinüber“ zu den Männern.

4.00 Uhr: Aufstehen.
4.30 – 6.30 Uhr: Meditation in der Dhamma Halle
6.30 – 7.00 Uhr: Frühstück
8.00 – 9.00 Uhr: Gruppenmeditation
9.00 – 11.00 Uhr: Meditation
11.00 – 11.30 Uhr: Mittagessen
13.00 – 14.30 Uhr: Meditation
14.30 – 15.30 Uhr: Gruppenmeditation
15.30 – 17.00 Uhr: Meditation
17.00 – 17.30 Uhr: Abend-Tee
18.00 – 19.00 Uhr: Gruppenmeditation
19.00 – 20.30 Uhr: Videodiskurs durch S.N. Goenka
20.30 – 21.00 Uhr: Meditation
21.30 Uhr: Licht aus, Nachtruhe!

So sieht der Tagesablauf der nächsten Tage aus, der bei jedem Kurs der gleiche ist und nur durch das regelmäßige vegetarische Essen etwas an Würze bekommt – so scheint es. Eine Täuschung, wie so vieles Andere.

Das Essen in der Halle läuft ebenfalls schweigend ab. Foto: Doris

Das Essen in der Halle läuft während des Kurses ebenfalls im Stillen ab. Hier ein Bild vom letzten Tag, an dem das Schweigen aufgebrochen wird.

Tag 1: „Auch wenn ihr wolltet, könntet ihr keine Notizen zu euren Gedanken machen,“, bringt S.N. Goenka am Abend die Zusammenfassung des ersten Tages auf den Punkt, „sie sind so sprunghaft wie Affen, die sich von einem Ast zum Nächsten schwingen. Unfassbar.“ Ich werde mich daran gewöhnen, dass er scheinbar Gedanken lesen kann… „Abgesehen davon, dass ihr gar keine Notizen machen dürft.“, fügt der bescheidene Guru mit verschmitztem Grinsen hinzu. Ich halte mich daran, ertappe mich nur immer wieder dabei, in Gedanken bereits die Sätze dieses Posts zu formulieren. Soviel zum Thema Konzentration aufs Meditieren.

Was tue ich hier überhaupt? Jetzt ist gerade wirklich der schlechteste Zeitpunkt! Wie soll ich das bloß aushalten? Gedanken wie diese sind noch die harmlosesten, die mir an diesem ersten Tag durch den Kopf schießen. Konzentration auf den Atem, der die nächsten Tage zur Einführung gefordert wird, ist unmöglich. Und dazu diese Schmerzen: Ich kann nicht sitzen, mal zwickt es hier, mal brennt es dort, mein Rücken ist eingefroren, meine Schultern pochen schmerzhaft, es tut einfach alles weh. Ich will aus meiner Haut fahren, durch das Tor in die Gegenrichtung hinauslaufen – verdammt, wie soll ich zehn solche Tage schaffen?

Einzige gute Nachricht: Die Affen lassen sich nicht sehen. Noch nicht?

Tag 2: „Heute geht es schon ein bisschen besser.“, fasst S.N. Goenka am Abend wieder einmal treffend zusammen. Ja, es ist besser… die Konzentrationsspanne wächst von 0,111 auf 0,112 Sekunden, die Schmerzen haben sich im Körper verteilt, meine Muskeln sind vom Sitzen erstarrt.

In der Dhamma-Halle wird an jeder Ecke und an jedem Ende gehustet und geschnupft (die Rülps- und Furzgeräusche erwähne ich jetzt mal nicht): Kein Wunder, hier oben in den Bergen und vor allem aufgrund des schattigen Waldes ist es eiskalt. Ich gehe mit drei Decken, meinem Schlafsack sowie all meiner Kleidung ins Bett und werde in der Nacht durch mein eigenes Bibbern geweckt. Und ich bin da wohl keine Ausnahme…

Der laaange Weg ist das Ziel?! Foto: Doris

Der laaange Weg ist das Ziel?

Tag 3: „Mist, ich habe eine Idee: Ich muss hier raus!“ Wenn ein Aufenthalt im Affenwald etwas bewirkt, dann dass die Kreativität nur so durch alle Knochen fährt. Jeden Moment, so scheint es, habe ich einen anderen – besonders großartigen – Einfall, finde ich eine andere Lösung für Probleme da draußen; sämtliche Beziehungen der vergangenen Jahre kaue ich durch, führe Streit- und Versöhnungsgespräche, schlichte Kleiderkästen neu und beschließe wieder einmal, in Zukunft alles ganz anders zu machen.

Während wir in Stille meditieren (bzw. es versuchen), wird in Indien Diwali gefeiert: Musik klingt bis in unsere stillen Hallen, Böller werden durch die Gegend geschossen werden – und die Affen zeigen heute, was sie drauf haben. Ein Stampf-, Schrei- und Grölkonzert dröhnt von Nachmittag bis in den Abend im Wald, die Affen sitzen auf den Wegen, machen sich breit – und versetzen mich in eine Art Starre. Als ich beim Zähneputzen einen Affen in ein paar Meter Entfernung sitzen sehe, flüchte ich in die Duschkammer und traue mich erst wieder heraus, als ich jemand anderen kommen höre. Der Affe ist längst weg…

Tag 4: Nach tagelanger Vorbereitung mit Atemübungen wird heute endlich den neuen StudentInnen die Vipassana-Technik beigebracht. Es ist keine „übliche“ Meditation, sondern es geht darum, Empfindungen am Körper wahrzunehmen und diese zu beobachten. Ohne zu reagieren, ohne aus dem Gleichgewicht zu gelangen. Durch die Erfahrung am eigenen Körper stellt man fest, dass alles vergänglich ist, durchbricht Denkmuster und lernt sein Verhalten zu kontrollieren.

Schmerzen, Zwicken, Zwacken, Brennen, Jucken, Hitze… alle Empfindungen sind gleich: Alle sind weder gut, noch schlecht, sondern entstehen und vergehen. Warum auf etwas heftig mit Ablehnung oder Sehnsucht reagieren, wenn es ohnehin nicht dauerhaft bleibt?

Luxus sieht anders aus, Wohlfühlen eigentlich auch: Meine Kammer für 10 Tage. Foto. Doris

Luxus sieht anders aus, Wohlfühlen eigentlich auch: Meine Kammer für 10 Tage.

Tag 5: Halbzeit – und mir fällt es plötzlich wie Schuppen von den Augen: Vipassana ist meine einzige Chance. Oder überhaupt die einzige Chance. Wer kennt nicht diese schlauen Sprüche: Sei nicht so jähzornig! Liebe dich selbst, dann lieben dich auch andere! Blablabla… Wie bitte?!?!? Vipassana ist eine Lösung, ein Weg, der wahrhaftig glücklich macht – weil das Glück nicht von außen, von vorhandenen Erfolgsmomenten, der Beförderung, dem neuen Kleid, dem perfekten Liebhaber abhängt.

Als ich auf der schmutzbeschmierten Scheibe im Essbereich einen der vielen „Be happy :)!“-Schriftzüge entdecke, muss ich lächeln. I am happy!

Tag 6: Ich bin fertig, ich will nicht mehr, ich habe alles gelernt! So einsichtig und „erleuchtet“ ich gestern auch war, heute will ich einfach nur raus. In mein normales Leben. Endlich meine Ideen umsetzen. Endlich wieder ohne Zittern einschlafen. Endlich wieder reden, wieder lesen, wieder schreiben…

Ausgerechnet an diesem Tag passiert dann eine Sitzung, in der ich „es“ schaffe: Mein Fuß ist – wie üblich – im Lotus eingeschlafen. Ein Gefühl, das ich hasse und bei dem ich sofort Stellung wechseln muss aus unerfindlicher Panik, dass mein Fuß abfällt. Nicht diesmal. Diesmal bleibe ich sitzen, bewege mich nicht, schaffe es ausgeglichen zu bleiben und nicht in Angst zu verfallen. Und tatsächlich: Mein Fuß „erwacht“ wieder, ohne dass ich etwas mache. Ein unglaubliches Gefühl der Leichtigkeit, der Freiheit, der Erkenntnis durchströmt meinen Körper: Alles ist ständiges Entstehen und Vergehen, ich habe es am eigenen Leib erfahren!

„Gratuliere, Ihr habt den sechsten Tag überstanden.“, beglückwünscht S.N. Goenka uns abends und erklärt, dass der zweite und der sechste Tag angeblich die Schwierigsten seien. Mit den meisten „Drop-Outs“. Ich bin stolz: Auf mich, auf uns alle! Erst später stelle ich fest, dass auch wir drei Abbrecherinnen verzeichnen mussten. Eine Australierin, eine Russin und eine Inderin haben die zehn Tage nicht durchgehalten.

Licht am Ende des Tunnels.. Naja, noch vier Tage! Foto: Doris

Licht am Ende des Tunnels. Naja, noch vier Tage!

Tag 7, 8 und 9:  Ich habe das Gefühl, dass die Tage vorüberziehen. In den Sitzungen selbst kann ich mich mal besser, mal schlechter konzentrieren. Aber ich hadere nicht mehr, ich habe mich abgefunden, meinen Frieden erlangt. Und doch zähle ich die Stunden: Noch dreißig Stunden Meditieren, noch zwanzig Stunden….

Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät... Foto: Doris

Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät…

Tag 10: Ein seltsamer Tag, der letzte Tag, der Tag des Redens! Das Schweigen, das wir die letzten zehn Tage aufrecht erhalten haben, ist heute zu Ende. Dabei ist das Schweigen der Teil bei Vipassana, der mir am leichtesten fällt. Ich erinnere mich, dass ich bei meinem ersten Vipassana-Kurs Ende 2008 noch bewusst länger beim Meditieren geblieben bin, als es hieß: Ihr dürft wieder sprechen. Ich konnte noch nicht, war überfordert vom Lärm, vom Pulsieren, vom Lebendigsein und habe mich erst nach einigen Minuten hinaus unter Menschen getraut.

Heute ist alles anders. Heute plaudere ich von Anfang an. Der Tagesablauf ist aufgelockert – meditiert wird trotzdem. Keine zehn, sondern „nur“ um die acht Stunden. „Ich konnte mich nicht konzentrieren, bin jedes einzelne Gespräch in Gedanken durchgegangen.“, erzählt mir Priti, eine der new students, später von ihrer schwierigen Meditationserfahrung an diesem Tag. Und doch müssen wir genau das lernen: Das Meditieren „trotz“ des Redens, trotz des Alltags, trotz anderer Verpflichtungen.

Die Grenzen werden am letzten Tag aufgebrochen. Foto: Doris

Die Grenzen werden am letzten Tag aufgebrochen: Wir dürfen uns am Gelände wieder frei(er) bewegen.

Heute gehen wir einmal nicht um 21 Uhr schlafen, sondern kauern uns mit Matratzen und Decken bewaffnet draußen ins Gras und auf die Wege so lange, bis uns die Eiseskälte in die Schlafsäcke treibt.

Tag 11: Ich habe es geschafft. Um 7.30 Uhr – nach der Morgenmeditation und dem Frühstück – ist der Zehn-Tage-Vipassana-Kurs offiziell zu Ende. Doch die richtige Herausforderung beginnt erst, das weiß ich schon jetzt: Jeden Tag soll man – morgens und abends – je eine Stunde meditieren, jedes Jahr einen Kurs besuchen und natürlich in jedem freien Moment Vipassana praktizieren. Ich bin sehr motiviert!

„Vipassana ist die Kunst zu leben und zu sterben,“, gibt uns S.N. Goenka auf den Weg, „glücklich, friedvoll und harmonisch!“ Und ich muss an ihn denken, diesen dicklichen, alten Inder mit Reibeisenstimme und unglaublich warmer Ausstrahlung, der in der ersten Oktober-Woche gestorben ist. Vermutlich mit einem Lächeln auf den Lippen, denn er hat diese Kunst zweifellos beherrscht!

Wir haben es geschafft: Die Mädels am letzten Tag! Foto: Anupama

Wir haben es geschafft: Die Mädels am letzten Tag! Foto: Anupama

Und die Affen? Die haben sich dezent im Hintergrund gehalten, sich nur ab und an lautstark auf den Blechdächern bemerkbar gemacht, mittags Teilnehmerinnen beim Zähneputzen beobachtet (was die Komisches machen, die Menschen!) und uns mit ihrem Familienprogramm – von Entlausung bis Auf-Bäume-Jagen – unterhalten. Sie haben wohl gewusst, dass wir mit dem Affenzirkus in unseren Köpfen genügend zu tun haben. Recht haben sie! Be happy!

 

Himachal Vipassana Center Dharamkot, PO: McLeod Ganj – 176219, Dharamsala, Distt. Kangra. Himachal Pradesh, India. Telefon: [91] 92184-14051 , [91] 92184-14050 (Office hours: Montag – Samstag: 4-5pm), E-Mail: info@sikhara.dhamma.org, Infos und Bewerbung für alle Kurse weltweit unter www.dhamma.org