Vor dem Hintergrund der europäischen Turbulenzen habe ich mich auf die Mission begeben, europäische Werte und Anliegen zu identifizieren. In der Interview-Serie #ThisIsMyEurope spreche ich mit Menschen rund um den Kontinent und versuche herauszufinden, was für sie „Europa“ bedeutet. Das erste Interview habe ich mit Lucile aus Paris geführt.

Lucile Pouthier, Doktorandin, klingt streng als ich sie über die wichtigsten Werte Europas befrage. „Ich muss dich warnen, das klingt jetzt vielleicht ein bisschen nach Schönheitswettbewerb, aber ich glaube, der wichtigste Mehrheit ist Frieden.“ Sie lacht. Selbst über die dürftige Skype-Verbindung schafft sie ein sympathisches Auftreten. „Wir werden nicht täglich damit konfrontiert, aber vor mehr als sechzig Jahren waren wir aktiv dabei uns gegenseitig zu töten. Der Frieden, den wir jetzt haben, ist eine verdammte Leistung!“

Familiengeschichte

Luciles Wertschätzung für Europas Rolle im täglichen Frieden stamm ursprünglich aus ihrer Familiengeschichte. „Als ich noch klein war, erzählten meine Großeltern mir Geschichten aus ihrer Jugend. Du weißt, wie Menschen, die dem Tod nah waren den Drang haben, ihre Vergangenheit und Erfahrungen zu teilen? Ich war eine aufmerksame Zuhörerin und stellte Fragen.“ Luciles Großmutter mütterlicherseits war Bulgarin. Sie verließ ihre Heimat als der Eiserne Vorhang errichtet wurde, getrennt von ihrer Familie, die später von der Sicherheitspolizei dazu gezwungen wurde, sie zu verstoßen und für die nächsten zehn Jahre den Kontakt zu ihr vollständig abzubrechen. Ihre Großmutter väterlicherseits wuchs in der Nähe der Stadt Besancon im Osten Frankreichs auf, einem Gebiet, das in beiden Weltkriegen ernsthaft betroffen war. Ihr Großvater wiederum hatte im ersten Weltkrieg gekämpft.

Als am Vorabend der deutschen Invasion die anrückenden Truppen kamen, hob er sie in einen Wagen und floh zu Fuß aus der Stadt. Als der Kommandant der französische Armee, Kommandant Pétain, die Kapitulation angekündigt, brach der alte Mann in Tränen aus. „Das ist immer bei ihr geblieben“. Diese Geschichten haben einen bleibenden Eindruck auf Lucile gemacht. „Erst seit kurzem erkenne ich, wie wertvoll es ist, Menschen aus dieser Zeit mit gelebter Erfahrung gekannt zu haben. Ein vereintes Europa ist etwas, das wir oft für selbstverständlich halten, aber es ist nicht selbstverständlich.“

#TIME-Lucile

Anschläge in Paris

Ich spreche mit Lucile nach ihrer Rückkehr nach Paris. In Südafrika führt sie Studien für ihr Doktorat in Kulturwissenschaften über dessen Strafjustiz und Straffvollzugssystem durch. Als sie vor einem Jahr nach Paris zurückkehrt, erreicht sie es kurz nach dem Anschlag von Charlie Hedbo. Dieses Jahr war ihr Timing nicht viel besser. Sie landete eine Woche nach den jüngsten Angriffen. Sie hat Mühe dabei, ihr Lager in einer Stadt aufzuschlagen, wo die Reaktion der Menschen auf die Anschläge Ausmaße annimmt, die sie nicht verkraften kann. „Es hat mich verfolgt zu sehen, wie schnell Demonstrationen der Trauer und Einheit einer patriotischen Kriegsstimmung wichen. Wir sind ernsthaft verletzt. Aber wir sollten bereit sein, auf uns selbst zu sehen.“

Lucile sieht einen Nachteil in Europas derzeitige Form. „Der Frieden, den wir für uns selbst geschnitzt haben, ist manchmal zum Nachteil der anderen. Wir fordern Gleichheit, Freiheit, Vielfalt und Menschenrechte, durch die wir eine Identität aufgebaut haben. Aber wir halten doppelte Standards.“ Sie erwähnt die Rolle der Türkei im Fernhalten der Flüchtlinge von der EU als ein Beispiel: „Unabhängig von einer Verschlechterung der Menschenrechtslage in ihrem Land ist die Türkei nun aufgefordert, die EU wieder zu verbinden. Europa vergisst bequem ihre eigene Verantwortung für den Status in dem sich der Mittlere Osten jetzt befindet.“

Lucile sieht eine Zukunft für Europa in dessen Neigung zur Kritik. „Nach den jüngsten Angriffen hier in Paris gab es Stimmen, die fast militärisch die Idee förderten, der Terror könnte nur überwunden werden, wenn wir genauso weitermachten wie bisher. Es überrascht mich, wie viele Menschen der Begründung zustimmten.“ Der Klimagipfel COP12 brachte eine Veränderung. „Er zeigte die Absurdität auf, einen konsumorientierten Lebensstils als Merkmal für französische Identität zu rebranden. Das ist keine Lösung. Genauso wenig wie auf unbestimmte Zeit einen Ausnahmezustand zu halten oder Menschen, die in Europa geboren wurden, ihre Nationalitäten auszutreiben.“ Luciles Hoffnung liegt in der Fähigkeit Europas, die Diskrepanzen zwischen den Werten und deren Anwendung zu bemerken. „Wir sollten unseren Standards gerecht werden, egal wie ehrgeizig sie sind. Die Geschichten meiner Großeltern sind eine düstere Erinnerung daran, was auf dem Spiel steht.“

 

Dieser Artikel wurde auf Oneworld.nl erstveröffentlicht, dieses Interview ist Teil 1 der Serie #ThisIsMyEurope von Reinier Vriend. Vielen Dank an Moni für die Übersetzung!