„Im Grunde sind es immer die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben.“ Wilhelm von Humboldt, einem Gelehrten und Mitbegründer der heutigen Humboldt Universität, werden diese Worte nachgesagt. Immer wieder höre ich Menschen darüber sprechen, wie wertvoll ihr Leben sei. Dabei sprechen sie weniger über ihr Leben, als über ihren Besitz, ihre Statussymbole, ihre Leistung. Wertvoll ist, wer ein großes Auto fährt, jährliche Prämien im Job kassiert, drei Mal im Jahr in Urlaub fliegt. Wertvoll ist, wer erst spät in der Nacht aus dem Büro kommt und schon im Morgengrauen wieder am Schreibtisch sitzt. Die Leistungsträger und High Potentials sind es, die anscheinend den Maßstab für die Wertigkeiten unserer Gesellschaft, unserer Leben darstellen. Kann das wirklich sein? Ich bin kein High Potential und obwohl mir meine Arbeit Spaß macht, verbringe ich meine Zeit doch lieber draußen in der Sonne. Heißt das, dass ich weniger wert bin? Dass meine Art zu leben nicht wertvoll oder nicht wertvoll genug ist? Ich glaube nicht. Das vergangene Wochenende hat mich wieder einmal in diesem Glauben bestärkt und mir deutlich vor Augen geführt, dass Herr Humboldt ein ausgesprochen weiser Mann war.

Seit knapp neun Jahren lebe ich mittlerweile in Wien, beinahe schon ein Jahrzehnt. In all diesen Jahren hat eine Vielzahl von Menschen meinen Weg gekreuzt und Spuren hinterlassen. Die einen mehr, die anderen weniger. Einer dieser Menschen, der sehr schnell zu einem lieben Freund wurde, hat am vergangenen Freitag seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, in der man gewiss viele Bekanntschaften macht. In dreißig Jahren entstehen Freundschaften und Beziehungen, manche davon währen ein Leben lang. So manchen Begleiter verabschiedet man nach einem Stück gemeinsamen Weges, den einen oder anderen trifft man vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt wieder. Bei besagter Geburtstagsfeier sind viele dieser Weggefährten zusammen gekommen um den Gastgeber hochleben zu lassen. Alte Schulfreunde, Arbeitskollegen, Familie und Freunde aus den verschiedensten Kreisen gaben sich ein Stelldichein. Alte Freundschaften wurden belebt, neue Freundschaften geschlossen. Ich habe Menschen getroffen, die ich seit Jahren nicht gesehen habe. Von Veränderungen wurde berichtet, von neuen Plänen und Zielen. Und natürlich wurde in Erinnerungen geschwelgt. „Weißt du noch, damals…“, „Kannst du dich erinnern, wir haben doch früher immer…“, „Ich sehe dich vor mir, als wäre es erst gestern gewesen…“ In all dem Trubel und Gelächter, in all der Wiedersehensfreude wurden jugendliche Schandtaten ausführlichst besprochen, gemeinsame Abenteuer Revue passieren lassen und vor Jahren begonnene Diskussionen weiter geführt. Begleitet von Kopfschütteln und lautem Lachen wurde über lang vergangene Missgeschicke und Entgleisungen philosophiert. „Jetzt, wo wir älter sind, würden wir das wohl nicht mehr so machen.“ Ein Blick auf den verschmitzt grinsenden Sprecher verspricht das Gegenteil. Ganz genau so würde ich alles wieder machen, denn auf keinen Fall möchte ich diese Erinnerungen missen. Nicht eine einzige Geschichte würde ich meinen Enkeln anders erzählen wollen. Kein einziger Witz auf meine Kosten soll unerzählt bleiben. Alles was war, macht uns zu den Menschen, die wir sind. Jede gemeinsame Erinnerung, jedes gemeinsame Erlebnis ist wie ein seidener Faden, der uns verbindet. Die Verbundenheit ist an diesem Abend deutlich zu spüren. Ein Gefühl, als könne man den Mond vom Himmel holen, wenn man nur gemeinsam fest genug am Seil zöge.

Ja, wir sind älter geworden. Erwachsener auf jeden Fall, meistens auch vernünftiger. Viele unserer in jungen Jahren gesteckten Ziele haben wir erreicht, viele auch nicht. Wir werden noch einige mehr erreichen, einige, die wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können. Viele werden wir nicht erreichen. Zum Teil weil sie mit der Zeit uninteressant geworden sind, zum Teil weil wir sie zu hoch gesteckt haben. Zum Teil vielleicht auch, weil uns die Möglichkeiten fehlen. Und trotzdem werden wir den Wert unserer Leben kennen und uns in dreißig Jahren entspannt zurücklehnen können, wenn die zukünftigen High Potentials die Maßstäbe neu festlegen. Ja, ich bin alt geworden. Gemeinsam mit wundervollen Menschen, deren Fußabdrücke meinen Weg zieren und deren Freundschaft und Verbundenheit meinem Leben so viel mehr Wert geben, als es ohne sie hätte. In diesem Sinne, liebes Geburtstagskind, erwarte ich voller Vorfreude die nächsten dreißig Jahre mit allen Abenteuern, die da kommen mögen. Nur den Mond würde ich gerne am Himmel stehen lassen, die Nacht wäre leer ohne ihn.