Eco. Life. Style.

Autor: Victoria

KUNST HALLT NACH: Radikalkunst für Kunstsammler

Ein Schwein steigt vom Kreuz und greift zum Bolzenschneider. In dieser Kolumne seht ihr Radikalkunst. Die erste Bronzeskulptur von Künstler und Tierrechtsaktivist Chris Moser. Mit Bolzenschneider, Panzerknackermaske und schelmischem Lächeln…

Ein Schwein steigt vom Kreuz und greift zum Bolzenschneider. In dieser Kolumne seht ihr Radikalkunst. Die erste Bronzeskulptur von Künstler und Tierrechtsaktivist Chris Moser.

Mit Bolzenschneider, Panzerknackermaske und schelmischem Lächeln steht die Schweinefigur aufrecht und mit voller Entschlossenheit auf einem Sockel mit der Aufschrift: total liberation. Das erste in Bronze gegossene Werk Chris Mosers ist für den Künstler selbst „in vielerlei Hinsicht ein ganz persönlicher Abriss meines Schaffens“. Das liegt wohl auch daran, dass das Werk einige Referenzpunkte zu seiner Person, seinem Ouvre und seiner Haltung aufweist.

Das Leid durchbrechen

Den Anstoß für die Entstehung des Bronzegusses total liberation war eine Anfrage des Kunstgießmeisters Walter Rom. Dieser war so begeistert von Mosers Werk schweINRI, dass er die Skulptur in Bronze gießen wollte. schweINRI ist im Jahr 1999 entstanden und zeigt ein gekreuzigtes Schwein. Im aufrecht hängendem Schweinekörper stecken Messer und Gabel, die daran erinnern, dass Schweine meist ausschließlich zum menschlichen Verzehr geboren und getötet werden. Neben dem Besteck dringen auch Spritzen in die Haut des Schweins ein. Hier nimmt Moser Bezug auf Tierversuche und die Nutzung von Schweinen im medizinischen Bereich.

Die Schweinefigur am Holzkreuz repräsentiert ein Wesen, das hilflos dem menschlichen Zugriff auf seinen Körper ausgeliefert ist. Dem Unterdrücker ergeben, blickt es mutlos zu Boden. Für Moser wäre es „inhaltlich problematisch gewesen, dieses gekreuzigte Schwein, diese Manifestation des Leidens derart monumental und unverrückbar in Bronze zu gießen“. Deshalb entwickelte er das Werk weiter und das leidende Schwein hat im Werk total liberation seine Opferrolle verlassen. Es wurde zur selbstbewusst, kämpferischen Akteurin. Das Schwein steht auf zwei Beinen, träckt eine Maske über den Augen, die sonst nur Menschen tragen und hält einen Bolzenschneider in den Händen. Hier findet eine Anthropomophisierung, also eine Art von Vermenschlichung statt. Mit dieser Darstellungsform wird die schweinliche Selbstermächtigung betont. Neben der Schweinefigur selbst, bringt auch der Bolzenschneider eine Geschichte mit.

Chris Moser, total liberation, Bronze, Gußform, Gipsmodell, 2019

Chris Moser, total liberation, Bronze, Gußform, Gipsmodell, 46 x 17,5 cm, 2019

Polizeibericht mit Bolzenschneider

Der „Wiener Neustädter Tierschutzprozesses“ brachte Polizeiberichte zu Tage, in denen Chris Moser als „der Bolzenschneider“ bezeichnet wurde. Bei der Hausdurchsuchung, die im Zuge seiner Verhaftung im Jahr 2008 stattfand, wurde aus dem Werkzeug in seinem Atelier ein Bolzenschneider beschlagnahmt. Der Beiname „Bolzenschneider“ fand später auch Einzug in die Abschlussberichte des Gerichts. Der Bildhauer Chris Moser wird darin mit „alias ‚der Bolzenschneider‘“ betitelt. Die damalige Richterin Arleth thematisierte Mosers Werkzeug in der Gerichtsverhandlung und fragte ihn, warum er überhaupt einen Bolzenschneider besitze. Im Dokumentarfilm Der Prozess (Gerald Igor Hauzenberger, 2011) erzählt Chris Moser von dieser Episode seines Lebens. Die Szene untergräbt alle Missdeutungen, indem der Künstler mit Bolzenschneider in den Händen eine Baustahlgittermatte für eine Kunstinstallation schneidet. Er braucht den Bolzenschneider für die Arbeit an seinen Kunstwerken. Moser wurde von allen Anklagepunkten freigesprochen und den Bolzenschneider, der sich lange Zeit in der Asservartenkammer der Polizei befand, hat er mittlerweile zurückbekommen.

Chris Moser in der Kunstgießerei Rom in Kundl

Chris Moser in der Kunstgießerei Rom in Kundl

In Bronze gegossen

In Zusammenarbeit mit der Kunstgießerei Walter Rom aus Kundl in Tirol sind die Bronzefiguren von total liberation entstanden. Die Gießerei wird seit 1928 als Familienbetrieb geführt. Kunstgießer Walter Rom erlernte das Giesserhandwerk im Betrieb seiner Eltern. Die Firma hat sich auf die Restaurierung denkmalgeschützter Bronzeskulpturen spezialisiert. Gearbeitet wird mit dem Wachsausschmelzverfahren bei größeren und mit Keramikschalenformverfahren bei kleineren Formen, beispielsweise Büsten, Skulpturen und Reliefe.

Die Skulptur total liberation ist in kleiner Auflage entstanden und kann käuflich erworben werden. Oder wie Chris Moser mit einem Augenzwinkern betont: „ENDLICH! Chris Mosers RADIKALKUNST fürs Kaminsims in den Salons besserbetuchter Bewunder_Innen seiner wegweisenden Kunst!“

Chris Moser beim Anfertigen des Gipsmodells für den Bronzeguss. Am rechten Unterarm trägt er seine Forderung in die Haut tätowiert.

Chris Moser beim Anfertigen des Gipsmodells für den Bronzeguss. Am rechten Unterarm trägt er seine Forderung in die Haut tätowiert.

Eindringlich

Aktuell arbeitet der Künstler an einer weiteren Serie von Bronzefiguren. Er betont, dass trotz der Arbeit mit Bronze, seine Werke „nicht durch den Materialwert, sondern den künstlerischen Wert und seine Aussage“ definiert werden sollen. Den Schriftzug total liberation trägt Chris Moser auch als Tattoo in der eigenen Haut. Und damit schließt sich der Kreis auch zu seiner Haltung. Mit künstlerischer Eindringlichkeit verhandelt Moser in seiner Kunst vorherrschende Unterdrückungsstrukturen. Er fordert die Überwindung dieser gewaltvollen Ausbeutungssysteme und hat dies nun auch in Bronze verewigt.

Wer Interesse daran hat eine Bronzefigur zu erwerben, nimmt am besten direkt mit dem Künstler Kontakt auf.

@chris.moser.radikalkunst
www.radikalkunst.net

Chris Moser in der Kolumne KUNST HALLT NACH:

Affe oder Mensch? Chris Mosers Skulptur „artgerecht“
Bist du ein Homo ABER? – Radikalkunst von Chris Moser
Lähmende Endlosschleifen durchbrechen – Radikalkunst von Chris Moser

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KUNST HALLT NACH: Schau dir diese Vulva an!

Faltig und kraftvoll befreit sich das weibliche Genital von patriarchalen Bewertungsstrategien. Ein Festival für die Vulva. Berühmteste Vulva der Kunstgeschichte Die wohl berühmteste Vulva der Kunstgeschichte hinterließ Maler Gustave Courbet…

Faltig und kraftvoll befreit sich das weibliche Genital von patriarchalen Bewertungsstrategien. Ein Festival für die Vulva.

Berühmteste Vulva der Kunstgeschichte

Die wohl berühmteste Vulva der Kunstgeschichte hinterließ Maler Gustave Courbet im Werk „Der Ursprung der Welt“. Er, der männliche Künstler, eröffnet den geschockten Betrachter*innen von damals (s)einen Blick auf die intime Zone eines weiblichen Körpers. Zu sehen ist der Unterleib einer am Rücken liegenden, nackten Frau. Der seitlich abgelegte Schenkel eröffnet den Blick auf die dunkel behaarte Vulva. Die äußeren Vulvalippen (1) sind leicht gerötet, der kleine Spalt lässt das Innenliegende und eine zarte Erregung erahnen. Skandalös im Jahr 1866.

Gut 150 Jahre später – weniger skandalös, aber durchaus provokativ – widmet die Galerie „Die Schöne“ der Vulva ein eigenes Festival: Das Vulva Festival „Look at this Vulva! Ein unverschämter Blick“.

Im Fokus der Gruppenausstellung steht nicht der männliche, häufig sexualisierende Blick, sondern die Auseinandersetzung mit dieser omnipräsenten und dennoch tabuisierten Körperzone der Frau*. Grafisch abgebildet, bildhauerisch geformt, wortreich besprochen, interessiert betrachtet oder ganz konkret in künstlerische Aktionen mit einbezogen.

Olja Grubic, Flower Bouquet, Foto: Jacqueline Korber

Vulvische Eröffnung

Sie steckte sich eine kleine Kunststoffvase in die Vagina und arrangierte darin einen Blumenstrauß. Mit der Performance Flower Bouquet eröffnete die Künstlerin Olja Grubic das Vulva Festival.

Mit nacktem, nach oben gestreckten Unterleib und geöffneten Beinen lag die Künstlerin am Rücken, ihre Füße stützte sie an einem Fensterbrett ab. Nachdem sie in ihre Vagina ein kleines Gefäß einführte, steckte sie nach und nach Grashalme und eine rote Orchidee hinein. Sie arrangierte einen Blumenstrauß und band einen kleine Masche um die Stängel, womit der Vorgang abgeschlossen war. Danach hob sie den Blumenstrauß aus der kleinen Kunststoffvase und entfernte auch diese selbst aus der Körperöffnung zwischen ihren Schenkeln. Grubic verbeugte sich und übergab den Blumenstrauß an die Veranstalterin Nina Fountedakis.

Olja Grubic, Flower Bouquet, Foto: Jacqueline Korber

Grubics Performance erinnert daran, dass der weibliche Unterleib ein Ort ist, an dem Neues entsteht, die Vagina eine Verbindung zwischen Außen und Innen schafft. In ihren Zeichnungen still life zeigt die Künstlerin grafisch minimalistisch dargestellte Vulven in schwarz weiß, die fleischlich und lebendig wirken. Nicht nur klassisch phallische Obst und Gemüsesorten, wie Bananen oder Gurken stecken in den Vaginas, auch Wassermelonenstücke oder mehrere Karotten gleichzeitig.

Olja Grubic, Still Life, Foto: Jacqueline Korber

Zwischen Klitoris und Penis

Stefanie Grübls Kleinplastiken zeigen „realistisch geformte Genitalmodelle aus Gips-Modelliermasse“. In den bunten Objekten, lässt die Künstlerin Grauzonen kategorischer Geschlechterdefinition plastisch in Erscheinung treten. Ihre plastischen Darstellungen von „vielfältige Vulven, erigierte und nicht-erigierte Penisse sowie intergeschlechtlichen Genitalien“ dienen auch als Anschaungsmaterialien in der sexualpädagogischen Arbeit.

Vielfältige Vulven und Penisse

Stefanie Grübl, Vielma, Foto: Jacqueline Korber

„Vielfalt sicht- und begreifbar machen“ lautet das Motto von vielma. In der Galerie der Schöne zeigte Grübl auch einen Vulva, die sich aufgrund der Geburt eines Kindes verändert hat. Auf dem Zettelchen beschreibt sie in klassischer wissenschaftlicher Manier, was das Modell zeigt: Vulvamodell mit Dammnaht (Darstellung einer Geburtsverletzung) / VULVA with PERINEAL SUTURE.

Vulvamodell

Stefanie Grübl, Vielma, Vulva mit Dammnaht, Foto: Jacqueline Korber

Vulva Vulva an der Wand

Wie vielfältig Frau-Sein aussehen kann, zeigt Jacqueline Korber im Werk Ich bin nicht so schön wie du, ich bin so schön wie ich. Die Installation aus schwarz/weiß Fotografien zeigt nackte Frauenkörper unterschiedlichen Alters und in verschiedenen Formen. „Das Vergleichen und Bewerten führt hier nicht zur Abwertung des eigenen oder anderen, sondern zur liebevollen Wertschätzung von beidem.“(2) An unsichtbaren Fäden hingen je zwei aneinander geklebte Fotografien von der Decke der Galerie und drehten sich in den Luftzügen, die von Bewegungen der Betrachter*innen erzeugt wurden.

Jacqueline Korber, ich bin nicht so schön wie du, ich bin so schön wie ich, Foto: Jacqueline Korber

Zwischen den weißen Pobackenabdrücken funkelt ein goldener Vulvaabdruck. „Mit ihren Fingern strich sie die goldene Farbe auf ihre Vulvalippen und setzte sich aufs Leinen“, erzählt Jacqueline Korber über die Entstehung des Werks Footprints of Joy „die Farbe Gold steht für Wertvolles und besonders Ehrwürdiges“.

Jacqueline Korber, Footprints of Joy, Foto: Jacqueline Korber

Soviel Vulva und kein Porno

Den Besucher*innen bot das Vulva Festival ein vielseitiges Programm zur wertschätzenden Auseinandersetzung mit dem weiblichen Genital. Kunst von zeitgenössischen Künstler*innen eröffneten neue Denk-, Sichtweisen und Wahrnehmungsweisen. Empowerment auf vielen Ebenen. Viva la Vulva!

Alle Infos zum Vulva-Festival 2019

Konzept und Organisation: Nina Fountedakis
25. – 29.6.2019 in der Galerie Die Schöne, Wien

(1) Es wird bewusst das Wort Vulvalippen anstatt „Schamlippen“ gebraucht. Zum Thema Viva la Vulva – Endlich Schluss mit Scham! sprach FRO-Redakteurin Astrid Dober  in der Radiosendung FROzine auf Radio FRO.

(2) Victoria Windtner, Texte zu den Werken im Portfolio Jacqueline Korber, 2019

(3) Weitere Kolumne zum Thema: Vulva Vulva! Das geniale Genital als Kunstobjekt gegen das Schubladen-Denken

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SALE – im LENTOS Linz: Nur mehr für kurze Zeit!

Kennt ihr das Gefühl, wenn man* mit der besten Freundin stundenlang durch Boutiquen zieht und in aufregenden Probiersessions Zeit und einfach alles vergisst? In der Ausstellung INES DOUJAK – SALE…

Kennt ihr das Gefühl, wenn man* mit der besten Freundin stundenlang durch Boutiquen zieht und in aufregenden Probiersessions Zeit und einfach alles vergisst?

In der Ausstellung INES DOUJAK – SALE im Lentos Kunstmuseum erlebte ich ein Revival dieses Gefühls. Mitten im großen Saal des LENTOS laden Kleiderstangen mit Röcken, Kleidern, Overalls und Mänteln aus tollen Stoffen und in stylischen Schnitten zum Anprobieren ein und die Museumshalle verwandelt sich noch bis 21. Mai 2018 in einen Pop-up Store.

Neben Probiersession-Feeling erzeugt Ines Doujak mehrfach angenehme Gefühle, die aber bei genauerer Betrachtung der Werke ins Stocken geraten. Die österreichische Künstlerin vernäht das Offensichtliche mit komplexen Sinnebenen und chiffriert das Politische auf modische Weise.

Ines Doujak, Karneval

Schmutzige Geheimnisse, blutende Pferde, freche Plünderer, brennende Nähmaschinen, gequälte Affen und dreckige Ideologien. In ihren Werken verwebt Doujak künstlerische Praxis mit kritischen Labels und formuliert mit Nadelstichen ihre vielschichtige Kritik unter anderem an der Modeindustrie. Textiler Zwirn verstrickt mit metaphorischen Fäden, die es zu entwickeln gilt.

Das Saalheftchen benennt das politische Feld der Globalisierung und daraus resultierende Konsequenzen: #Freihandelsabkommen, #Transportkosten, #Ausbeutung, #Rassismus, #Tierqual.

Ines Doujak, Kriminalaffe

Jedes Werk könnte Ausgangspunkt sein, um Fragen zu konkreten Entwicklungen in Gesellschaft und Politik zu eröffnen. Doch ich schließe an dieser Stelle und empfehle den Besuch der Ausstellung: SALE – nur mehr für kurze Zeit im Lentos Linz.

Ausstellungsansicht, großer Saal im LENTOS Kunstmuseum Linz

Danke an mein zauberhaftes Fotomodell Jasmin Maria David!

INES DOUJAK – SALE
LENTOS Kunstmuseum Linz
Ernst-Koref-Promenade 1, 4020 Linz

Über Pfingsten geöffnet!

Kuratorin: Hemma Schmutz

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ANIMAL UTOPIA – Hoffnungsvoll nach vorne malen

Das Buch ANIMAL UTOPIA beleuchtet das künstlerische Schaffen von Maler Hartmut Kiewert und schenkt Hoffnung ohne die Realität zu verklären. Kunst mit gegenwärtigen Praktiken verknüpfen Im Vorwort eröffnet Publizistin und…

Das Buch ANIMAL UTOPIA beleuchtet das künstlerische Schaffen von Maler Hartmut Kiewert und schenkt Hoffnung ohne die Realität zu verklären.

Kunst mit gegenwärtigen Praktiken verknüpfen

Im Vorwort eröffnet Publizistin und Journalistin Hilal Sezgin die Auseinandersetzung mit Kiewerts Gemälden anhand ihrer assoziativen Betrachtung. Sie stellt klare Bezüge her zwischen den utopischen Malereien Kiewerts, den realen Praktiken der Tierproduktionsindustrie und den Verhaltensweisen von Schweinen. Das Gemälde Herbst (2012) erinnert Sezgin an ein reales Ereignis, das sich 1959 in Australien ereignete. Beim Unfall eines Tiertransporters mit Schweinen konnten „etliche von ihnen entkommen und bildeten im Namadgi National Park eine beständige Population“. (ANIMAL UTOPIA, 12)

Bild: Harmut Kiewert, Herbst, Öl auf Leinwand, 60 x 100 cm, 2012

Was-wäre-Wenn in Bild und Text

Mit Worten bringt Sezgin auf Papier, was Kiewert mit Pinseln auf der Leinwand festhält, wenn sie beschreibt, was alles möglich wäre, wenn ein Schwein den gegenwärtigen Haltungssystem entkommen könnte. „Schweinemütter würden sich bequem hinlegen, um ihre Jungen zu säugen. Sie würden ihnen Nester in kleinen, mit Laub gepolsterten Gruben anlegen und müssten die Nase nicht in traurigen Ersatzhandlungen über den leeren Spaltenboden schieben.“ (ANIMAL UTOPIA, 13)

Kiewerts Gemälde spielen laut Sezgin „mit einem Was-wäre-wenn, aber es ist kein naives Was-wäre-wenn, sondern eines, in dem Absperrungen und Schranken und Wunden noch sichtbar sind.“

Bild: Hartmut Kiewert, Nest, Öl auf Leinwand, 150 x 190 cm, 2013

Kunstgeschichte schreiben

Die Texte zu Kiewerts Werken hat Kunsthistorikerin und Herausgeberin der Fachzeitschrift Tierstudien, Jessica Ullrich, verfasst. Ullrich beschreibt Werke und die künstlerische Entwicklung Kiewerts, stellt kunsthistorische Bezüge her, vollzieht eine Einordnung der bildlichen Darstellungen in Kiewerts Werkkomplex und zeichnet ein ausführliches Porträt seines Schaffens. Auf vermittelnde Art eröffnet Ullrich den Rezipient*innen den Zugang zu Kiewerts Kunst.

Bild: Hartmut Kiewert, Randstreifen, Öl auf Leinwand, 80 x 100 cm, 2015

Kunst als Medium der Hoffnung

Am Ende des Textteils, bevor der 100-seitige Farbbildteil beginnt, verweist Jessica Ullrich auf die Bedeutung des Begriffs Utopie und präsentiert zwei Begriffsdefinitionen. Die des Philosophen Max Horkheimer, für ihn ist Utopie „die Kritik dessen, was ist und die Darstellung dessen, was sein soll“ und die Definition des Philosophen Ernst Bloch, für ihn steht Utopie für das „Denken nach vorn“. (ANIMAL UTOPIA, 85) Die Essenz von Kiewerts künstlerischer Postition fasst Ullrich an mehreren Textstellen und konstatiert zu guter Letzt: „Die auf seinen Tableaus realisierten Ziele einer imaginierten, aber sich tatsächlich gesellschaftlich vorbereitenden Revolution der Tier-Mensch-Beziehung sind Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit für alle Spezies. Und so bleibt auch für Hartmut Kiewert der Geist der Utopie dem Prinzip Hoffnung verbunden.“ (ANIMAL UTOPIA, 85)

ANIMAL UTOPIA ist eine Künstlermonografie mit gesellschaftlicher Relevanz. Ausführlich und erkenntnisreich gelingt die Auseinandersetzung mit herrschafts- und gesellschaftskritisch Kunst. Kunst, die den Mut hat sich den tief verwurzelten karnisitischen und speziesistischen Denktraditionen in der Gesellschaft kritisch gegenüber zu stellen.

ANIMAL UTOPIA
Verlag compassion media, 2017
Hardcover, 28 Euro
ISBN 978-3-9816425-6-8

Website des Künstlers Hartmut Kiewert
Statement des Künstlers zu Theorie und Praxis seiner Maltechnik

Vielen Dank für das Rezeptionsexemplar an compassion media!

ANIMAL UTOPIA ist hier erhältlich.

 

Wer jetzt gleich noch mehr über einzelne Kunstwerke und Hartmut Kiewerts Kunst lesen möchte, sei auf folgende KUNST HALLT NACH Kolumnen verwiesen:
Kunst verändert den Blick – ANIMAL UTOPIA

Da sitzt ein Schwein am Sofa – Nachhalltige Kunst von Hartmut Kiewert

Herrschaft und Gewalt im Fadenkreuz – Hartmut Kiewerts Gewährsmänner

 

Was magst du an Kunstbüchern/Katalogen besonders?

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KUNSTSTRASSE IMST mit Radikalkünstler Chris Moser

Die KUNSTSTRASSE IMST zeigt heuer die Chris Moser Ausstellung „Radikalkunst: Perspektivenwechsel – vom Objekt zum Subjekt“. Mosers neueste Skulptur „artgerecht“ ist in Imst das erste Mal öffentlich zu sehen. Das Kunst-…

Die KUNSTSTRASSE IMST zeigt heuer die Chris Moser Ausstellung „Radikalkunst: Perspektivenwechsel – vom Objekt zum Subjekt“. Mosers neueste Skulptur „artgerecht“ ist in Imst das erste Mal öffentlich zu sehen. Das Kunst- und Kulturevent KUNSTSTRASSE IMST in Tirol präsentiert heuer über 60 Künstler*innen an mehr als 20 Schauplätzen.[1] Am 1. Dezember 2017 um 18 Uhr wird die KUNSTSTRASSE IMST von der Tiroler Kulturlandesrätin Dr. Beate Palfrader eröffnet und damit auch die Ausstellung des Bildhauers Chris Moser.

Chris Moser Ausstellung

In den Räumlichkeiten des ehemaligen Stadtcafes am Imster Stadtplatz 10 zeigt die Ausstellung Radikalkunst: „Perspektivenwechsel – vom Objekt zum Subjekt“ plastische und grafische Arbeiten von Bildhauer Chris Moser. Unter dem diesjährigen Event-Motto „Selbstdarstellung und andere Inszenierungsstrategien“ vollzieht der Künstler eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit eigenen „Grenzerfahrungen“.

„Die Trennung zwischen künstlerischem Subjekt, mir als Künstler und dem künstlerischen Objekt, meinen Kunstwerken war klar und deutlich.
Am 21. Mai 2008 wurde diese klare Trennung von staatlichen Repressionsbehörden nachhaltig verwischt.
Vom Subjekt zum Objekt.
Plötzlich betrafen mich meine künstlerischen Themen selber. Repression: Nicht weiterhin ein abstraktes Schreckgespenst, sondern meine Realität.
Gefangenschaft: Nicht weiterhin erschütternde Ahnung, sondern eigene Erfahrung.
Unrecht: Nicht weiterhin nur von außen bekämpft, sondern plötzlich von Innen wahrgenommen.“

Chris Moser war Angeklagter im sogenannten Tierschutzprozess und wurde freigesprochen (aus bewiesener Unschuld, rechtskräftig). Die verschwommenen Grenzen hinsichtlich seiner eigenen Person, dem Künstler und dem Angeklagten Moser korrespondieren in Werken wie „artgerecht“ mit den Identitätskonstruktionen und Bedeutungsproduktionen der menschlichen Spezies in Abgrenzung zum „Tier“. Mehr Bilder von „artgerecht“ findet ihr in meiner Kolumne KUNST HALLT NACH.

Chris Moser, artgerecht, 2017

Rahmenprogramm zur Moser Ausstellung bei der KUNSTSTRASSE IMST

#Eröffnung: Am 1. Dezember um 18 Uhr am neugestalteten Platz vor der Sparkasse in Imst

#Lesung: Am 3. Dezember ab 14 Uhr liest der Künstler und Autor Chris Moser aus seinem aktuellen Buch „Viva la rebellion. Ein Aufruf zum Widerstand!“ (Kyrene Verlag).[1]

#Film: Am internationalen Tag der Menschenrechte, am 10. Dezember, ab 14 Uhr wird im Zuge der Ausstellung der preisgekrönte Dokumentarfilm „Der Prozess“ von Gerald Igor Hauzenberger gezeigt. Der Film dokumentiert staatliche Maßnahmen der Repression gegen zivilen Ungehorsam von Tierrechtsaktivist*innen. Chris Moser, ehemaliger Angeklagter des sogenannten „Wiener Neustädter Tierschutzprozesses“, wird im Film porträtiert. Im Anschluss an den Film wird über zivilen Ungehorsam und Verantwortung, sowie die wichtige Rolle der Kunst im täglichen Widerstand diskutiert.

#Performance: Eine konsumkritische Performance mit dem Titel „maßlos, übertrieben & geschmacklos wie der Konstumterror selbst!“, ist in Zusammenarbeit mit der Theatergruppe ein/aus entstanden und wird  am 16. Dezember ab 14 Uhr im öffentlichen Raum gezeigt.

Öffnungszeiten

Sehen kann man/frau die Chris Moser Personale und alle weiteren Ausstellungen der Imster Kunststrasse 2017 an folgenden Wochenenden: 2. und 3. Dezember, 8. bis 10. Dezember, 16. und 17. Dezember jeweils von 14 bis 19 Uhr.

Hier findet ihr das ganze Programm der KUNSTSTRASSE IMST

Organisiert wird die KUNSTSTRASSE IMST vom Kulturreferat der Stadt gemeinsam mit dem Kulturbüro, dem Organisationsteam von Pro Vita Alpina und dem Kulturverein Freiraum Imst organisiert.

Vielen Dank an Chris Moser für die zur Verfügung gestellten Fotografien!

Chris Moser lebt und arbeitet als Künstler, Buchautor und politischer Aktivist in Tirol.
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Affe oder Mensch? Chris Mosers Skulptur „artgerecht“

Ein Kopf – zwei Gesichter. Chris Moser übersetzt einen lang anhaltenden und komplexen Diskurs in eine Skulptur, die unkompliziert und ausdrucksstark Position bezieht. Das Werk „artgerecht“ ist bald in Imst…

Ein Kopf – zwei Gesichter. Chris Moser übersetzt einen lang anhaltenden und komplexen Diskurs in eine Skulptur, die unkompliziert und ausdrucksstark Position bezieht. Das Werk „artgerecht“ ist bald in Imst zu sehen, hier ein kleiner Vorgeschmack.

Die Gipsbüste zeigt eine Figur mit zwei Gesichtern. Das Gesicht eines Menschen und das Gesicht eines Schimpansen, die an den Hinterköpfen ineinander verschmolzen sind und so eine Einheit bilden. Unter dem Hals formt sich die Skulptur zu einem runden Sockel, der am unteren Ende die Aufschrift trägt: „…artgerecht ist nur die freiheit ist artgerecht ist nur die freiheit ist argerecht ist nur die freiheit ist artgerecht….“[1]

Chris Moser, artgerecht, 2017

Chris Moser, artgerecht, 2017

Radikale Verbundenheit

Die Frage, wer denn nun wen anblickt, beziehungsweise, ob das Tier zurückblickt, den Menschen anblicken kann, wird hier ad absurdum geführt. In der Verschmelzung von Mensch und Tier hin zu einem hybriden Wesen provoziert Moser eine tiefgreifende In-Frage-Stellung der ohnehin unscharfen und verschwommenen Speziesgrenze in künstlerischer Form und verweist auf die Verbundenheit von Mensch und Tier.

Mit Verbundenheit, im wissenschaftlichen Kontext, beschäftigt sich Susanna Magdalena Karr in ihrer Publikation „Verbundenheit. Zum wechselseitigen Bezogensein von Menschen und Tieren“ (Neofelis Verlag), in dem sie schreibt: „Das Anerkennen der Verbundenheit als Gegebenheit fordert weitreichende Revisionen im Umgang mit anderen Lebensformen. So wird die Kategorisierung aller nicht-menschlichen Lebewesen als „Material“ oder „Produkt“ fallen müssen.“

Frei von Überlegenheitsgefühlen

Problematisiert wird die vom Menschen selbst auferlegte Superiorität in der Tierwelt, seine Überlegenheits- und Allmachtsgefühle, die ähnlich wie bei Rassismus und Sexismus auf Ab- und Ausgrenzung beruhen, um Diskriminierung zu legitimieren und zu forcieren. Die Dekonstruktion dieser veralteten kategorialen Grenzen befreit in erster Linie den Menschen selbst und macht Hierarchisierung und stures Beharren auf menschlicher, männlicher, oder weißer Dominanz überflüssig. Chris Moser Werk „artgerecht“ ist bei der KUNSTSTRASSE IMST erstmals öffentlich zu sehen.

Chris Moser, hier beim Modellieren der Skulptur artgerecht, 2017

Vielen Dank an Chris Moser für die zur Verfügung gestellten Fotografien und die Möglichkeit der Erstveröffentlichung!

Chris Moser lebt und arbeitet als Künstler, Buchautor und politischer Aktivist in Tirol.
Künstlerische Medien: Bildhauerei, Grafik, Collage/Assemblage
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Neueste Publikation: Chris Moser, Viva la Rebellion. Ein Aufruf zum Widerstand, 978-3-902873-58-3, Kyrene Verlag, 2016 – gelesen von Victoria Windtner.

[1] Mich erinnert der Spruch an das Buch „Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen“, von Publizistin und Philosophin Hilal Sezgin. Sezgin tritt für einen liberalen Islam ein und engagiert sich für die Rechte von Tieren. Der Spruch ist nach Auskunft von Chris Moser jedoch schon viel älter als das Buch.
[2] Chris Moser in meiner Kolumne: KUNST HALLT NACH: Bist du ein Homo ABER? – Radikalkunst von Chris Moser; Lähmende Endlosschleifen durchbrechen – Radikalkunst von Chris Moser

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Lähmende Endlosschleifen durchbrechen – Radikalkunst von Chris Moser

Ein Gipsschädel als Perpentuum Mobile der „Denk“-Bewegung. Flexischläuche verbinden die Gesichtsöffnungen mit der Wirbelsäule und vice versa. Chris Moser veranschaulicht in seiner neuesten Skulptur einen Kreislauf der vermeintlichen Ohnmächtigkeit und…

Ein Gipsschädel als Perpentuum Mobile der „Denk“-Bewegung. Flexischläuche verbinden die Gesichtsöffnungen mit der Wirbelsäule und vice versa. Chris Moser veranschaulicht in seiner neuesten Skulptur einen Kreislauf der vermeintlichen Ohnmächtigkeit und fordert Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.

Von den Augen in den Hinterkopf, aus dem Ohr zum Mund, aus der Nase ins Rückenmark, aus dem Hinterkopf ins Auge, aus dem Mund zum Ohr, aus dem Rückenmark in die Nase. Sinneseindrücke und Wahrnehmungswelten sind auf einen in sich rotierenden Mechanismus beschränkt.

Solo-Bubble-Performance

Der Bildhauer Chris Moser nimmt Bezug auf das sich im Kreis drehende Denken von Menschen, auch im Sinne einer Unabrückbarkeit von Überzeugungen und ideologischen Glaubensystemen. Im Gegensatz zum Werk „homo ABER„[1] argumentiert diese Figur nicht gegen Reflexionen der Außenwelt, sondern entzieht sich völlig der Auseinandersetzung mit dieser. Die Wahrnehmungswelt dieses Wesens wird auf die eigene Vorstellungswelt reduziert und (Selbst-)Reflexion ist damit unmöglich.

Bestehende Ansichten, Meinungen, Glaubenssätze und Denkformen zirkulieren unentwegt. Es scheint, als könnte nichts neues, anderes in diesen Kreislaufs hinzu kommen. Eine skulpturale Gestaltung der soziokulturellen Filterblase #Bubble? Eine Art Endlosschleife einer Solo-Bubble-Performance?

Chris Moser bei der Arbeit am Werk: EIGENverantwortlich! VERschwörung? SELBSTbestimmt, Sockelbüste, Gips und Accessoires, 2017

Selbstbestimmt den Kreislauf durchbrechen

Selbstreflexion und das ausdrückliche Hinterfragen von „eingespielten Abläufen“ fordert Chris Moser. Um die konfrontative Wirkung zu verstärken steht die Büste auf einem Sockel und wird damit auf Augenhöhe der Betrachter*innen gesetzt. Moser wendet sich direkt an die Betrachter*innen seiner Werke und konfrontiert sie mit provokanten Fragen:

„Sind immer die ANDEREN das problem?
oder eigene gewohnheiten?
teil des problems oder teil der lösung?
… sind die einfachsten erklärungen tatsächlich die besten?
– beeinflussen, manipulieren & versklaven euch wirklich ‚die medien‘ – die ihr doch freiwillig konsumiert?
– haben ‚die grosskonzerne‘ wirklich zuviel macht
– dennoch kauft ihr freiwillig ihre produkte?
– fristet ihr wirklich euer dasein im ‚erzwungenen materialismus‘ während ihr materialistische bedürfnisse stillt?
– ist am ende vielleicht gar keine ‚verschwörung‘ verantwortlich für dieses kranke leben, sondern ihr selbst?
– scheissen euch womöglich gar nicht die ‚mainstreammedien‘ den kopf voll, sondern ihr selbst?“

Chris Moser, Skizze der Arbeit: EIGENverantwortlich! VERschwörung? SELBSTbestimmt!, Sockelbüste, Gips und Accessoires, 2017

Schläuche rausreißen!

Chris Moser wendet sich direkt an die Akteur*innen im gesellschaftlichen System. Diese Akteur*innen sind wir. Jeder und Jede einzelne*n von uns, die dieser Gesellschaft angehören und durch das eigene, oft unreflektierte Verhalten, zum Bestehen problematischer Zustände beitragen. Mit enormer Dichte konfrontiert uns der politische Künstler mit Themen wie Konsumverhalten, Materialismus, Kapitalismus, medialer Manipulation und Verschwörungstheorien. Indirekt nimmt er Bezug auf vorherrschende Ideologien, deren prägende Wirkung und Dominanz, die meist unerkannt und unsichtbar bleiben und ermutigt zum Durchbrechen der eigenen Denk- und Handlungsgrenzen.

Danke an Chris Moser für die Erlaubnis, die ersten Fotografien des Werkes „EIGENverantwortlich! VERschwörung? SELBSTbestimmt!“ in diesem Kolumnenbeitrag zu veröffentlichen.

Chris Moser lebt und arbeitet als Künstler, Buchautor und politischer Aktivist in Tirol.
Künstlerische Medien: Bildhauerei, Grafik, Collage/Assemblage
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Neueste Publikation: Chris Moser, Viva la Rebellion. Ein Aufruf zum Widerstand, 978-3-902873-58-3, Kyrene, 2016 – gelesen von Victoria Windtner.

[1] Bist du ein Homo ABER? – Radikalkunst von Chris Moser

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Kunst verändert den Blick – ANIMAL UTOPIA

„Die letzte Tierfabrik wurde geschlossen. Ehemalige Tierproduktionsstätten verfallen zu Ruinen.“ So, oder so ähnlich könnte eine News-Meldung aussehen, wenn Hartmut Kiewerts >ANIMAL UTOPIA< wahr wird und Menschen den Blick auf…

„Die letzte Tierfabrik wurde geschlossen. Ehemalige Tierproduktionsstätten verfallen zu Ruinen.“ So, oder so ähnlich könnte eine News-Meldung aussehen, wenn Hartmut Kiewerts >ANIMAL UTOPIA< wahr wird und Menschen den Blick auf das Tier nachhaltig veränderten.

Utopische Kunst als Gesellschaftskritik

Der Künstler Hartmut Kiewert schafft seit mehreren Jahren politische Kunst und legt in seiner künstlerischen Auseinandersetzung den Fokus auf gesellschaftsrelevante Themen. Im speziellen beschäftigt ihn das herrschaftliche Ausbeutungssystem von sogenannten „Nutztieren“. Seine Kunst bezieht Stellung zur Problematik der vorherrschenden Mensch-Tier-Beziehung und verdeutlicht mit emanzipatorischer Kraft: „Schau mal, so könnten wir auch mit Tieren umgehen“.

Kiewert zeigt, wie es sein könnte, wenn sich die von Objektivierung und Herrschaft geprägte Beziehung zwischen Mensch und Tier verändert und ein friedliches Zusammenleben möglich wird. So manche Unbequemlichkeit in Zusammenhang mit dieser Veränderung spricht Kiewert klar an, wenn er beispielsweise in Interviews sagt: “Menschen sollten aufhören Schweine zu züchten, gefangen zu halten und zu töten.”[1]

Bild: Hartmut Kiewert, Teppich III, Öl auf Leinwand, 160 x 190 cm, 2017

Inhaltlich nimmt Kiewert bei manchem Werk Bezug auf historische Anhaltspunkte, die den aktuellen Blick auf das Tier geprägt haben. Beispielsweise im Werk „Gewährsmänner“, wo er den Philosophen René Descartes und den Gegenwartskünstler Damian Hirst in ein Jagdgemälde von Gustave Courbet des 19. Jahrhunderts setzt. Mit diesen Aneignungen und Reinszenierungen kunsthistorischer Werke, wie auch in den Gemälden Im Freien“ oder „Evolution of Revolution , rüttelt er an gegenwärtigen Konventionen und stellt historische Bezüge her, die entschlüsselt werden wollen.

ANIMAL UTOPIA, Verlag compassion media, erscheint im Herbst 2017

Kommenden Herbst erscheint im Verlag compassion media ein Katalog, der über 100 Werke des Malers Hartmut Kiewert zeigen wird. Das gemeinschaftliche Projekt des zeitgenössischen Künstlers mit dem Verlag, >ANIMAL UTOPIA<, soll dazu beitragen „langfristig eine neue Sicht auf Tiere zu etablieren“, den „rein anthropozentrischen Blick zu relativieren“ und den Betrachtenden ermöglichen, „diesen fühlenden sozialen Lebewesen auf eine neue, empathische Art zu begegnen.“

Das Vorwort im Katalog stammt von Philosophin und Journalistin Hilal Sezgin, die Begleittexte von Kunsthistorikerin und Tierstudienherausgeberin Jessica Ullrich.

Bild: Harmut Kiewert, Herbst, Öl auf Leinwand, 60 x 100 cm, 2012

>ANIMAL UTOPIA< unterstützen

Zur Finanzierung des Projekts wurde die Crowdfunding Kampagne >ANIMAL UTOPIA< gestartet, die sehr erfolgreich angelaufen ist. Bis 20. August 2017 kann jede*r das Projekt unterstützen und damit dazu beizutragen, dass „aus der Utopie eines friedlichen Zusammenlebens im Idealfall ein Ist-Zustand“ wird.

Denkst du politische Kunst kann unseren Blick verändern?

 

Zur Crowdfunding Kampagne >ANIMAL UTOPIA<
Website des Künstlers Hartmut Kiewert
Statement des Künstlers zu Theorie und Praxis seiner Maltechnik

Weitere Artikel zur Kunst von Hartmut Kiewert auf The bird’s new nest:
Da sitzt ein Schwein am Sofa! Nachhal(l)tige Kunst von Hartmut Kiewert
Herrschaft und Gewalt im Fadenkreuz – Hartmut Kiewerts „Gewährsmänner“

[1] Da sitzt ein Schwein am Sofa! Nachhal(l)tige Kunst von Hartmut Kiewert

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Sergio Bambaren – Interview mit einem Schriftsteller und Träumer

Begegnungen zwischen Mensch* und Tier sind in seinen Büchern allgegenwärtig. In der Rezension zu seinem neuesten Buch „Das Fenster zur Sonne“ wird Sergio Bambaren als „stiller und kritischer als je…

Begegnungen zwischen Mensch* und Tier sind in seinen Büchern allgegenwärtig. In der Rezension zu seinem neuesten Buch „Das Fenster zur Sonne“ wird Sergio Bambaren als „stiller und kritischer als je zuvor“ beschrieben. Ich habe nachgefragt, was der Schriftsteller über reale Konsequenzen der dominierenden Mensch-Tier-Beziehungen denkt, wie sein Schreiballtag aussieht, und ob er tatsächlich denkt, dass Träumer*innen die Welt verändern können.

Die englische Version des Artikels findet ihr im Anschluss, das Interview wurde ursprünglich auf Englisch geführt.

Victoria: Hat das Schreiben von Büchern Ihr Leben verändert?

Sergio Bambaren: Es hat mein Leben komplett verändert, zum Positiven. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass es so viele Menschen auf der Welt gibt, die ihr eigenes Leben so sehr in Frage stellen wie ich es mit meinem eigenen tue. Das gibt mir Hoffnung, dass wir die Welt zu einer besseren machen können, für uns alle.

Welches Buch hatte den größten Einfluss auf Ihr Leben?

Ich denke, alle von ihnen. Es sind alles wahre Geschichten mit ein bisschen Fiktion. Aufgaben, die das Leben mir gegeben hat und die ich mit meinen Lesern teile. Ihre E-Mails sind das größte Geschenk, das man mir machen kann!

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Wie sieht Ihre tägliche Routine aus, wenn Sie schreiben? Welchen Effekt haben Deadlines auf den kreativen Schreibprozess?

Das liebe ich am meisten. Ich habe keine tägliche Routine. Jeder Tag ist ein neues Abenteuer, das es zu entdecken gilt. In einer gewissen Art und Weise habe ich mein Leben wiederentdeckt. Ich entscheide, was ich mit meiner Zeit tue. Manchmal, weit weg vom Lärm der Massen, mitten in der Natur in meinen „Haus des Lichts“, weiß ich nicht einmal welcher Tag es ist oder welche Uhrzeit wir haben. Ich lasse mich treiben in den Gezeiten des Meeres und dem Wechsel der Jahreszeiten.

Normalerweise schreibe ich in der Nacht, in der Stille der Einsamkeit, mit einem Himmel voller Sterne und dem Meer direkt vor mir. Inspiration ist wie Melancholie. Du weißt nie, wann sie kommt. Deadlines waren nie ein Problem. Wenn ich schreibe, was mein Herz mir sagt, gibt es keine Deadlines.

Warum schreiben Sie über Tiere in Ihren Büchern? Sind sie eine Art von Metapher oder denken Sie wirklich über Ihre realen Umstände in der Gesellschaft nach?

Alle Tiere und Kreaturen über die ich schreibe sind real. Ich schwimme mit Walen und Delfinen, ein kleiner wilder Fuchs namens Chiqui kommt und geht in meinem Haus, die Schildkröten, die Krabben, sie alle existieren. Die Natur gibt immer mehr zurück als sie nimmt, darum kommen die meisten Dinge, die ich gelernt habe, von der Natur. Ich kann diese nicht mit der menschlichen Gesellschaft vergleichen. Tiere kennen keine Gier, Neid, Vergeltung, Hass. Sie lassen sich einfach vom Leben selbst treiben.

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Denken Sie, die Dominanzbeziehung zwischen Mensch und Tier sollte sich ändern? Wenn ja, wie sollte diese Änderung aussehen?

Ich bin Vegetarier, also kann ich mit Konsequenz sprechen. Das Leben ist wertvoll für mich, sei es das einer Ameise oder das eines Elefanten. Wir sollten die Natur respektieren und von ihr lernen. Auf die gleiche Art sollten wir uns gegenseitig respektieren für das, was wir sind. Grausamkeit gegenüber Tieren, selbst Bäumen, ist etwas, das ich nicht verstehen kann, also versuche ich für die zu kämpfen, die nicht für sich selber kämpfen können.

Denken Sie, die industrielle Massentierhaltung ist ein Problem?

Sie ist die größte Grausamkeit von allen. So wie sich die Welt langsam in ein großes Shoppingcenter verwandelt, füttern wir die Tiere nur um sie dann zu essen. Es ist komisch, wie wir in unserer westlichen Gesellschaft einen Pandabären oder einen Delfin niedlich finden. Aber eine Kuh? Sie ist nur Fleisch. Diese Art zu denken werde ich nie verstehen. Für mich ist jedes Leben heilig.

Am Anfang Ihres neuen Buches schreiben Sie: „Manche Vögel sind nicht dafür gemacht im Käfig zu leben.“ Was bedeutet das? Welche Vögel sind denn dafür gemacht im Käfig zu leben? Ist das nur eine Metapher für Ihr eigenes Leben oder denken Sie da wirklich an reale Vögel in realen Käfigen?

Ich habe viele Jahre meines Lebens von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags gearbeitet. Ich habe mich gefühlt als wäre ich ein Gefangener des Systems, in dem ich gelebt habe. Ich habe mich schrecklich gefühlt. Warum sollte ich den Regeln der Gesellschaft folgen in der ich gelebt habe, wenn mein Herz mir sehnsuchtsvoll sagt, dass Zeit mein wertvollstes Geschenk ist? Also beschloss ich zu arbeiten um mir selbst mehr Zeit zum Leben zu geben. Ich musste einige materialistische Opfer bringen, aber ich habe nie zurück geblickt. Obwohl ich jedermanns Art zu leben respektiere, kann ich nur von mir selbst und dem was ich mit meinem Leben getan habe, sprechen.

Was ist die Kernaussage ihrer Bücher? Können Träumer die Wirklichkeit verändern?

Das Leben hat mich zu einem Schriftsteller gemacht. Ich schreibe einfache Bücher mit unterschiedlichen Lektionen oder Botschaften in jedem einzelnen. Können Träumer die Welt verändern? Träumer sind diejenigen, die die Welt verändern! Ich zitiere Albert Einstein: „Die einzige Sache, die meine Träume und Vorstellungskraft behindert, ist meine Bildung.“ Selbst Steve Jobs (Gründer von Apple) sagte das, und dieser war nie auf einer Schule. Wir müssen unseren Kindern beibringen, an ihre Träume zu glauben.

Zum besseren Verständnis des Ziels/der Aussage Ihres Buches – vielleicht, wie man das Leben noch sehen kann oder wie man es leben könnte – denken Sie, es ist einfacher eine Geschichte voller Metaphern und zum Beispiel sprechenden Tieren zu erfinden? Also kein trockenes Beratungsbuch, das erklärt wie man ein Leben in Harmonie führen kann. Sondern eher ein Märchen, mit der Hoffnung des Autors, dass der Leser sich an die Metaphern erinnert und sie in sein eigenes Leben überleitet?

Das ist der Punkt an dem wir an einen schmalen Grat kommen. Träumer werden normalerweise „Menschen, die nicht in der realen Welt leben“ genannt. Aber was ist die reale Welt? Was die Mehrheit denkt oder tut? Ich spreche mit Tieren und begnüge mich damit, dass ich weiss, dass es so ist. Wenn du dich einmal von all den Dogmen, die man dir beigebracht hat zu glauben, losgelöst hast, verliert das Wort „unmöglich“ seine Bedeutung. Alles ist möglich, selbst das Sprechen mit Tieren… zumindest soweit ich weiß. Wenn ich es tun kann, dann kann es jeder tun, wenn man bereit ist seine „Komfortzone“ zu verlassen und zu seinen Träumen zu fliegen… und sobald du gesehen hast, dass es möglich ist, fühlt es sich ganz natürlich an, aber nochmals, es ist ein sehr schmaler Grat es zu verstehen.

Danke für alles! …Ein Träumer…

 

Neben seiner Karriere als Schriftsteller ist Sergio Bambaren Gründer und Präsident der Organisation DELPHIS, einer NGO zum Schutz der Meere, die sich um das Ökosystem der Meeresküsten und aller dort beheimateten Tiere kümmert und diese schützen möchte.

Webseite von Sergio Bambaren

Vielen Dank an Sergio Bambaren für das Interview, seine Bücher und die Botschaft, die an eine Vielzahl an Menschen verbreitet wird!
Vielen Dank an Ecaterina Leonte für die grossartigen Bilder!

Vielen Dank an die Buchhandlung Fürstelberger Linz und die Gesellschaft für Kulturpolitik (gfk) für den Abend mit Sergio Bambaren in Linz und Moritz Stoepel für seine hervorragende Darstellung bei der Lesung an diesem Abend.

Vielen Dank an Moni für die Übersetzung!

*Die Begriffe Mensch und Tier sind im Artikel kursiv gesetzt, um auf deren sozio-kulturelle Konstruktion zu verweisen.

(1) http://www.sbambaren.com/career.html#development

 

Here is the English version of the article for all who want to read the original version of the interview:

Encounter between humans and animals are omnipresent in his books. In the recension to his book „The house of light“, he is described as „more quiet and critical than ever“. So I asked Sergio Bambaren, what he thinks about the consequences of the dominant human-animal-relationship, how his daily life as an author looks like and if he actually thinks, that dreamers could change the world.

Has the writing of books changed your life?

It has changed my life completely, for the best. I never imagined there were so many people around the world questioning their own lives as I was doing with my own. And that gives me hope that we can make a better world, for all.

Which book had the biggest effects on your life?


I guess all of them. They are all true stories, with a bit of fiction. Lessons that life has given me, and that I share with my readers. Their e-mails are the biggest present I can get!

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What is your daily routine, if you’re writing?
 Which effects have deadlines on the creative writing process?

That’s what I love the most. I don’t have a daily routine. Every day is a new adventure to discover. In some way, I recovered my life. I decide what I do with my time. Sometimes, far from the madding crowds in the middle of Nature in my little “House of Light” I don’t remember what day is, or what is the time. I just flow with the tides of the ocean and the change of seasons.

I normally write at night, in the quietness of my solitude, with a sky full of stars and the ocean in front of me. Inspiration is like melancholy. You never know when it’s gonna come. Deadlines have never been a problem. If I write what my heart speaks to me, there is no deadline at all.

Why do you write about animals in your books? Are the animals in your books metaphors, or do you think about their real circumstances in our society?


All animals and creatures I write about are real. I swim with whales and dolphins, a little wild fox called Chiqui comes and goes around my home, the turtles, the crabs, they are all real. Nature always gives back more than what it takes, so most of the things I’ve learnt in life come from Nature. I cannot compare them with human society. Animals don’t feel greed, envy, vengeance, hate. They just flow with life itself.

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Do you think the dominant relationship between human and animals needs a change? If so, how should that change be?

I am vegetarian, so I can speak with consequence. Life is precious to me, be that of an ant, or an elephant. We should respect Nature and learn from it. The same way we should respect each other for who we are. Cruelty to animals, even trees, is something I cannot understand, so I try to fight for those who cannot fight for themselves.

Do you think the mass industry is a problem?


It’s the biggest cruelty of all. Just as the world finally turns into a big shopping-center, we feed animals just to eat them. It’s funny how in our Western society, we adore a panda bear or a dolphin. But a cow? That’s just meat. I will never understand this way of thinking. For me, all life is sacred.

At the beginning of your new book you write: „Some birds are not made for living in a cage¨ What does that mean? Which birds are made for living in a cage? Is it only metaphor for your own life, or do you also think about real birds, in real cages?

I worked many years of my life from eight in the morning to five o’clock in the afternoon. I felt I was a prisoner of the system I lived in. I felt miserable. Why should I follow the rules of the society in which I lived, when my heart was yearning to tell me that time is my most precious gift? So I decided to work to give myself more time to live. I had to make some material sacrifices, but I never looked back. Though I respect everyone’s way of looking at life, I can only talk about me and what I did with my life.

What is the main massage of all your books?
 Can dreamers change the reality?

Life made me a writer. I write simple books with a different lesson or message on each of them. Can dreamers change the world? Dreamers are those who change the world! Quoting Albert Einstein: “The only thing that has hinder my dreams and my imagination is my education.” If not, Steve Jobs (Founder of Apple) said the same, and never went to school. We have to teach our children to believe in their dreams.

For the understanding of your aim/message of the book – maybe, how life could also be seen and should be lived – do you think it is easier to create a story which is full of metaphoric things and for example speaking animals? So no dry counselling book which tells how to live a life in harmony. But rather a „fairy tale“ and the hope of the author/you that the reader recognizes the metaphoric advices and transfer some of them in his/her own live?

This is where there is a very fine line to be crossed. Dreamers are normally called “people who don’t live in the real world.” But what is the real world? What the majority think or do? I do speak with animals, and suffice to me that I know it’s true. Once you free yourself of all the dogmas we have been taught to believe in, suddenly the word “impossible” is meaningless. Everything is possible, even talking with animals…at least that I know. If I can do it, anyone can do it, if they are willing to leave the “safe” zone and fly towards their dreams…and once you see it can be done, it just seems so natural, but again, a very fine-line to understand.

Thanks for all! ….a dreamer…

 

Beside his career as an author, Sergio Bambaren is founder and president of  the organization DELPHIS, a marine conservation NGO, „that protects and takes care of the coastal marine ecosystems and all the animals that live in them (ocean and beach)“, so Sergio.

Website of Sergio Bambaren
Facebook-Site of Sergio Bambaren

Thanks to Sergio Bambaren for the interview, the books, and the message you bring to a broad public!
Thanks to Ecaterina Leonte for the great pictures!

Thanks to Bookshop Fürstelberger Linz and Gesellschaft für Kulturpolitik (gfk) for the evening with Sergio Bambaren in Linz and Moritz Stoepel for his awesome artistic play reading at this evening.

*The terms human and animal are italic because of their social and cultural construction.

(1) http://www.sbambaren.com/career.html#development

4 Kommentare zu Sergio Bambaren – Interview mit einem Schriftsteller und Träumer

Vulva Vulva! Das geniale Genital als Kunstobjekt gegen das Schubladen-Denken

Wer bestimmt was Frau*sein bedeutet? Ist meine Vulva politisch? Werde ich auf sie reduziert? Die drei Künstlerinnen Jacqueline Korber, Sonja Reiter-Gaisberger und Johanna Steiner beschäftigen sich mit „der Frau an…

Wer bestimmt was Frau*sein bedeutet? Ist meine Vulva politisch? Werde ich auf sie reduziert?

Die drei Künstlerinnen Jacqueline Korber, Sonja Reiter-Gaisberger und Johanna Steiner beschäftigen sich mit „der Frau an sich in all den Facetten ihrer Weiblichkeit“ und präsentierten in der Ausstellung DIE EINE SIE IST im Woferlstall (E.I.K.E. Forum) Bad Mitterndorf in der Steiermark ihre realisierten Werke.

Dort begegnete ich einer Kommode mit drei Schubladen…

Jacqueline Korber, „schubladisiert is glei amoi“, 2016, Gips in Kommode

Jacqueline Korber, „schubladisiert is glei amoi“, 2016, Gips in Kommode

Im kraftvollen, aber unaufdringlichen Werk „schubladisiert is glei amoi!“ setzt Jacqueline Korber den weiblichen Körper ins Zentrum der Aufmerksamkeit – und das mit einer klaren Botschaft an uns!

Eine Kommode. Drei Schubladen.  Zehn Frauen.

Die oberste und die unterste Schublade der Kommode ist geschlossen. Die mittlere Schublade hat ihren für sie vorgesehenen Platz verlassen  – sie liegt auf der Ablagefläche des Möbelstücks. In ihr enthalten sind zehn Gipsabdrücke von weiblichen Vulven.

Der Inhalt der untersten, geschlossenen Schublade wird aufgrund des Freiraums, der durch die fehlende mittlere Schublade entsteht, einsehbar. Der Torso einer weiblichen Person liegt darin. Die oberste Schublade muss geöffnet werden, um zu sehen, was sich in ihr befindet. Es sind drei Gipsabdrücke von Brüsten. „Frauen werden auf ihre Körperlichkeit und ihr Äußeres reduziert, oft auf Brüste und Vulva“, erklärt die Künstlerin.

Insgesamt waren zehn Frauen bereit für dieses künstlerische Werk einen Abdruck von ihrer Vulva, ihren Brüsten, oder des Oberkörpers machen zu lassen. Nur drei von ihnen, erzählt die Künstlerin, haben ihre eigene Vulva als Gipspositiv in der Ausstellung wiedererkannt. Für Korber ein Beweis dafür, dass „jede Lady öfter den Spiegel zur Hand nehmen und ihre Vulva betrachten sollte.“

Jacqueline Korber, „schubladisiert is glei amoi“, 2016

Sexistisches Schubladen-Denken

„Jacqueline, warum hast du nicht die Telefonnummern dazugeschrieben?“, fragte ein männlicher Ausstellungsbesucher witzelnd die Künstlerin. Eine Frage die das offenbart, was Korber unter anderem zu thematisieren versucht – Frau* wird auf ihr Geschlecht reduziert und zum Objekt degradiert. In der Ausstellung „geht es nicht um die Frau in der Opferrolle, oder um mangelnde Gleichberechtigung oder überhaupt um Gleichberechtigung – es geht ums Mensch sein.“ [1]

Ein weiterer Ausstellungsbesucher stellte den Vergleich zwischen den ausgestellten Gipspositiven der weiblichen Vulven mit einer Jagdstrecke [2] auf. Auch in einer sexistischen Alltagssprache finden sich Analogien, beispielsweise wenn von „Schnalle“ oder „Luder“ als abwertende Bezeichnung für eine Frau gesprochen wird. Beide Begriffe stammen aus dem Jagdjargon: „Schnalle“ bezeichnet das äußere Geschlechtsteil beim weiblichen Haarraubwild und beim Hund. [3] “Luder” ist jedes tote Tier, mit dem man Raubwild und Raubzeug anlocken möchte. [4]

„Jagdgebiete des Mannes“

Eine Verknüpfung die häufiger auftritt: „Tiere und Frauen verbindet, dass sie im ‚unendlichen Jagdgebiet‘ des Mannes auch ganz konkret als Beute und Opfer auftreten. So lassen sich vielfältige Verbindungen zwischen Frauen und (gejagten) Tieren oder zerlegten Tierkörpern nachweisen, die sich vom Bedeutungsfeld der Jagd über das Ritual des Fleischessens und die Pornografie bis hinein in Gewaltdarstellungen und Gewalthandlungen erstrecken.“ [5]

Die Kommentare der beiden männlichen Besucher (oben) zeigen: Korbers Werk bewegt sich an der unscharfen Grenze zwischen Reproduktion und Auflösung von Reduktion. 

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Jacqueline Korber, „schubladisiert is glei amoi“, 2016, Detail

Aufgreifen und Sichtbar machen

Korber wiederholt die Reduktion, die sich als gesellschaftliches Phänomen im Denken über die Frau* manifestiert, indem sie die Verringerung der Frau* auf das Geschlechtsteil in Gipspositiven vergegenständlicht. Eine unsichtbare Denkform wird demonstrativ sichtbar gemacht und so ein emanzipativer Akt vollzogen.

Die Künstlerin entzieht den RezipientInnen die Möglichkeit die Schublade mit den Vulven zu schließen. Die dauerhafte Präsentation verdeutlicht die Allgegenwärtigkeit von normativen Geschlechteridentitäten und Vergeschlechtlichungsprozessen und kann als Aufforderung zur Auseinandersetzung verstanden werden.

Blockieren und Auflösen

Als Metapher für Kategorisierung, Zuschreibung und Codierung verstanden, steht die nicht-schließbare Schublade gegen jede endgültige Einordnung innerhalb eines bestehenden, begrenzenden Denksystems.

„Es gibt so viele Teile und Teilchen in mir und meinem Sein, dass es ausgeschlossen ist nur ‚typisch weibliches‘ leben zu können oder auch zu wollen. Stereotyp weiblich – ich würd mich doch nur selbst betrügen. Ich bin Ich, in und mit all meinen Facetten und Farben“, erklärt Korber.

Die Künstlerin plädiert für eine Weiblichkeit, die sich nicht nur von Vergleichen mit dem Männlichen emanzipiert, sondern auch darauf verweist, dass es DIE EINE Weiblichkeit nicht gibt.

Jacqueline Korber, „schubladisiert is glei amoi“, 2016, Detail

Jacqueline Korber, „schubladisiert is glei amoi“, 2016, Detail

Geniales Genital – Let’s talk about…?

In der Auseinandersetzung ist mir aufgefallen, dass es für das weibliche Genital wenig geläufige Bezeichnungen gibt, die nicht derb, vulgär oder aus anderen Gründen unbrauchbar sind. Warum ist das nur so?

Das Wort Genital (von lat. Genus, dt. Geburt, Herkunft, Abstammung) wird beispielsweise neben Fortpflanzungsorgan auch mit Geschlechtsteil übersetzt, was bei Korber die Frage aufwirft: „Warum ist in diesem Wort, dass etwas so wunderbares beschreibt, ‚schlecht‘ enthalten? – Gehsuper würd mir besser gefallen!“ Die Künstlerin setzt sich über den gängigen Sprachgebrauch hinweg und spricht von „Gehsuperteilen“ „Lalas“ und „Mumus“.

„Durch unser geniales Genital erblickt ein kleiner Mensch zum ersten Mal das Licht der Welt“, bemerkt Korber wertschätzend und reißt damit die Schublade der Mutterschaft auf, an der sie zugleich rüttelt, wenn sie nach dem vorherrschenden Frau=Mutter-Vorstellungen fragt und was es für das Frau*sein bedeutet, wenn bei einer Frau* kein Kinderwunsch besteht.

An die Lalas und Mumus dieser Welt!

Den eigenen Körper „annehmen und lieben lernen [6] lautet die Aussage der drei in der Ausstellung gezeigten Künstlerinnen, sie wollen „keine Ideale erfüllen müssen und sich keine Klischees überstülpen lassen“, so der Pressetext von Jasmin Maria David.

„Erkenne dich selbst – entdecke und erfahre dich. Wechsle die Perspektiven. Tausche dich aus. Hör zu. Lerne deine Einzigartigkeit schätzen. Im Innen und im Außen. Und lass nicht Andere sagen, wer oder gar was du bist“, so Korber.

 

Jaqueline Korber lebt und arbeitet als Fotografin und Künstlerin in Bad Mitterndorf in der Steiermark in Österreich.
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[1] Vgl. DAVID, Jasmin Maria, Pressetext zur Ausstellung „DIE EINE SIE IST“, 2016
[2] Bei einer Jagdstrecke werden alle Lebewesen, die während der zuvor stattgefundenen (Gesellschafts-) Jagd verfolgt und getötet wurden, in einer Reihe aufgelegt und traditionell mit Zweigen belegt. Die Zweige werden zuvor mit dem Blut des Tieres versehen und anschließend trägt der Jäger, der das Tier erschossen hat den blutigen Zweig an seinem Hut.
[3] Lexikon zur Waidmannssprache auf jagd.de
[4] Lexikon zur Waidmannssprache auf jagd.de
[5] MÜTHERICH, Birgit, Tierrechte: Sie sind die anderen
[6] Vgl. DAVID, Jasmin Maria, Pressetext zur Ausstellung „DIE EINE SIE IST“, 2016

Das Wort Frau wird mit einem *(Stern) markiert, um auf die sozio-kulturellen Konstruktionen von Geschlechteridentitäten zu verweisen.

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